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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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fühlte mich langsam völlig in Verlegenheit gebracht. »Ich war ziemlich müde, als ich in Norwich ankam, und so bin ich gleich in meine Pension gegangen und habe mich hingelegt.« Ich beschloss, ihr nicht von der Warterei auf das Zimmer und der damit verbundenen Geschichte zu erzählen. Von meinem Besuch im Pub sagte ich auch nichts.
    »Aber natürlich waren Sie das«, sagte sie. »Zugreisen können so ermüdend sein. Ich nehme immer ein Buch mit. Lesen Sie, Mr Cantwell?«
    Ich starrte sie an und spürte, wie sich mein Mund öffnete, aber keine Worte herauskamen. Es war, als wäre ich in eine Situation geraten, von der ich vorher schon gewusst hatte, dass sie kaum zu ertragen sein würde, die sich nun aber als noch weit schlimmer herausstellte. Die Ironie war, dass ich nur an mich gedacht hatte und wie schwer es für mich werden würde, aber nicht daran, was unser Zusammentreffen für diese Frau bedeuten musste. Marian Bancroft war ein völliges Nervenbündel, und es schien von Minute zu Minute schlimmer zu werden.
    »Ach, du große Güte, das habe ich Sie schon gefragt, richtig?«, sagte sie und brach in ein außergewöhnliches Lachen aus. »Und Sie haben gesagt, dass Sie gerne lesen.«
    »Ja«, sagte ich, »und ich heiße Sadler, nicht Cantwell.«
    »Ich weiß«, sagte sie und zog die Brauen zusammen. »Warum sagen Sie mir das?«
    »Weil Sie mich Mr Cantwell genannt haben.«
    »Habe ich das?«
    »Ja. Gerade eben.«
    Sie schüttelte den Kopf und tat den Gedanken ab. »Das glaube ich nicht, Mr Sadler«, sagte sie. »Aber es macht nichts. Und was haben Sie gelesen?«
    »Im Zug?«
    »Ja, natürlich«, sagte sie mit leichter Verdrossenheit in der Stimme und sah zur Kellnerin hinüber, die jetzt wieder hinter der Theke stand und für das Paar, das sich von uns weggesetzt hatte, Scones auf zwei Teller legte. Ohne jeden Hinweis darauf, dass sie uns unseren Tee bringen würde.
    »Wolfsblut« , sagte ich. »Von Jack London. Kennen Sie das Buch?«
    »Nein«, antwortete sie. »Ist das ein amerikanischer Autor?«
    »Ja. Kennen Sie ihn?«
    »Ich habe noch nie von ihm gehört«, sagte sie. »Ich dachte nur, dass der Name so klingt.«
    »Obwohl er London heißt?«, fragte ich mit einem Lächeln.
    »Ja, das ändert nichts, Mr Cantwell.«
    »Sadler«, antwortete ich.
    »Jetzt hören Sie schon auf damit!«, fuhr sie mich an und schlug mit beiden Händen flach auf den Tisch. Kalt und wütend sah sie mich an. »Hören Sie endlich auf, mich zu verbessern. Ich ertrage das nicht.«
    Ich betrachtete sie und wusste nicht, was ich tun sollte, um die Situation erträglicher zu machen. Ich vermochte beim besten Willen nicht zu sagen, warum sie so verfahren war. Vielleicht war sie es schon seit dem Tag, da ich mich mit meinem Füllfederhalter vor den Briefbogen gesetzt hatte. Liebe Miss Bancroft, Sie kennen mich nicht … jedenfalls war ich ein Freund Ihres Bruders Will . Oder der Grund war noch früher zu suchen. In Frankreich. Oder an jenem Tag in Aldershot, als ich mich vorbeugte und Wills Blick auffing. Und er meinen.
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich und schluckte nervös. »Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
    »Aber das haben Sie. Sie haben mich beleidigt, und das mag ich nicht. Sie heißen Sadler. Tristan Sadler. Das müssen Sie mir nicht wieder und wieder sagen.«
    »Entschuldigen Sie«, wiederholte ich.
    »Und hören Sie endlich auf, sich zu entschuldigen, das ist ja kaum zu ertragen.«
    »Ent…« Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig stoppen.
    »Ja, ja«, sagte sie. Sie trommelte mit den Fingern auf den Tisch, sah wieder auf die halb gerauchte Zigarette, und ich wusste, dass ein Teil von ihr überlegte, wie es aussehen würde, wenn sie sie nehmen, das verkohlte Ende abstreifen und neu anzünden würde. Es war noch mehr als die Hälfte übrig und schien eine schreckliche Verschwendung. Im Schützengraben hatte eine halb gerauchte Zigarette fast so viel bedeutet wie eine Nacht allein sicher im Unterstand mit ein paar Stunden Schlaf. Ich konnte nicht sagen, wie oft ich selbst noch die kleinste Menge Tabak, eine Menge, die jeder normale Mensch ohne nachzudenken weggeworfen hätte, gesammelt und genossen hatte, solange es eben ging.
    »Was … lesen Sie gerne, Miss Bancroft?«, fragte ich endlich, verzweifelt darum bemüht, die Situation zu retten. »Romane?«
    »Warum sagen Sie das? Weil ich eine Frau bin?«
    »Nun, ja«, sagte ich. »Ich meine, ich weiß, dass viele Damen Romane mögen. Ich lese sie auch gerne.«
    »Obwohl Sie ein

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