Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
an sich. In meinen Tagträumen habe ich mir immer vorgestellt, dass es andersherum sein würde. Dass ich ihn umfassen und er zurückweichen und mich degeneriert und einen falschen Freund nennen würde. Aber ich bin weder schockiert noch überrascht und empfinde auch nicht die große Dringlichkeit, die ich mir vorgestellt habe, falls es je so weit kommen sollte. Stattdessen scheint alles ganz und gar natürlich, alles, was er tut, alles, was er zwischen uns geschehen lässt. Und zum ersten Mal seit jenem schrecklichen Nachmittag, als mein Vater alles Leben aus mir gedroschen hat, fühle ich mich wieder bei mir selbst.
Atmen und leben
Norwich, den 16. September 1919
M iss Bancroft«, sagte ich, legte die heruntergefallenen Servietten zurück auf den Tisch und stand auf. Ich spürte die Röte in meinem Gesicht und war mehr als nur etwas nervös. Ich streckte die Hand aus, und sie sah sie einen Moment lang an, bevor sie den Handschuh auszog und sie auf forsche, geschäftsmäßige Art schüttelte. Ihre Haut fühlte sich weich an.
»Sie haben ohne Schwierigkeiten hergefunden?«, fragte sie, und ich nickte schnell.
»Ja«, sagte ich. »Ich bin gestern Abend schon angekommen. Wollen wir uns setzen?«
Sie zog ihren Mantel aus, hängte ihn auf einen Ständer nahe der Tür und lehnte sich kurz über den Tisch. »Würden Sie mich einen Moment entschuldigen, Mr Sadler?«, fragte sie mit ruhiger Stimme. »Ich möchte mich nur etwas frisch machen.«
Ich sah ihr hinterher, wie sie zur Seitentür ging, und dachte, dass sie öfter hier sein musste, da sie keinerlei Schwierigkeiten hatte, die Damentoilette zu finden. Ich nahm an, das Manöver war geplant: hereinzukommen, Hallo zu sagen, mich kurz abzuschätzen und dann für ein paar Minuten zu verschwinden, um die Gedanken zu sammeln und sich auf unsere Unterhaltung vorzubereiten. Während ich wartete, kam ein junges Paar herein und nahm fröhlich schwatzend nur zwei Tische von meinem entfernt Platz. Er hatte eine große Brandnarbe seitlich auf dem Gesicht, und ich wandte den Blick ab, bevor er sich von mir angestarrt fühlte. Währenddessen nahm ich indirekt wahr, dass der Mann, der zuvor das Café betreten hatte, in meine Richtung sah. Er war hinter der Säule vorgerückt und schien intensiv zu mir herüberzusehen. Als ich seinen Blick auffing, wandte er sich jedoch gleich ab, und ich dachte mir nichts weiter dabei.
»Kann ich Ihnen einen Tee bringen?«, fragte die Bedienung, die mit einem Block und einem Stift an meinen Tisch getreten war.
»Ja«, sagte ich. »Oder lieber noch nicht. Könnten Sie noch einen Moment warten, bis meine Begleitung kommt? Es dauert nicht lange.«
Das Mädchen nickte, nicht im Mindesten beleidigt, und ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu, wo gerade eine Gruppe Schulkinder vorbeikam. Es waren vielleicht zwanzig kleine Jungen, in Zweierreihen liefen sie dahin und hielten sich bei den Händen, damit keiner verloren ging. So nervös ich auch war, musste ich doch lächeln. Das Bild erinnerte mich an meine eigene Schulzeit, als unsere Lehrer es uns genauso hatten machen lassen, mit acht oder neun, und Peter und ich uns die Hände fest gedrückt hatten, jeder entschlossen, nicht als Erster aufzuschreien, damit der andere locker ließ. Konnte das wirklich erst zwölf Jahre her sein?, fragte ich mich. Mir kam es wie ein ganzes Menschenleben vor.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen«, sagte Marian, als sie zurück an den Tisch kam und sich mir gegenüber hinsetzte. Das Paar sah zu uns her und flüsterte sich etwas zu. Vielleicht war es ein Liebespaar, das nicht wollte, dass jemand sein Gespräch mithören konnte, denn die beiden standen jetzt auf und wechselten zu einem Tisch vor der gegenüberliegenden Wand. Dabei warfen sie unfreundliche Blicke in unsere Richtung, als hätten wir sie vertrieben. Marian sah ihnen hinterher, ihre Zunge drückte leicht von innen gegen ihre Wange, und als sie sich schließlich wieder mir zuwandte, lag eine seltsame Mischung aus Schmerz, Resignation und Wut in ihrem Blick.
»Das macht doch nichts«, antwortete ich. »Ich bin noch keine zehn Minuten hier.«
»Sagten Sie, Sie seien gestern Abend schon angekommen?«
»Ja. Ich bin mit dem Zug am späten Nachmittag eingetroffen.«
»Aber das hätten Sie sagen sollen. Wir hätten uns auch zu einem für Sie angenehmeren Zeitpunkt treffen können. Sie hätten doch nicht extra übernachten müssen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das hat mir
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