Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
Vom Netzwerk:
hätte er nie gewollt. Dazu hatte er zu viel Tiefgang. Trotz seines guten Aussehens und seiner Fähigkeit, alle Frauen in Sichtweite in seinen Bann zu ziehen, schien er nie eine von ihnen auszunutzen. Das habe ich an ihm bewundert. Während seine Freunde den Mädchen wie Irre hinterherliefen, hatte er offenbar wenig Interesse an ihnen. Ich habe mich oft gefragt, ob er sich aus Respekt für unseren Vater so verhielt, den es natürlich nicht glücklich gemacht hätte, wenn sein Sohn der Casanova am Platze gewesen wäre. Wo er doch der Priester war, meine ich. Ich finde, so viele gut aussehende junge Männer sind nichts als respektlose Lümmel, Tristan. Würden Sie das nicht auch sagen?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich wirklich nicht, Marian.«
    »Oh, das glaube ich Ihnen nicht«, sagte sie lächelnd und schien mich etwas aufziehen zu wollen. »Sie kommen durchaus an Will heran, soweit ich das beurteilen kann. Das hübsche blonde Haar und die traurigen Hundeaugen. Ich sage das aus rein ästhetischer Sicht, Tristan, nicht dass Sie auf komische Gedanken kommen, schließlich bin ich alt genug, um ihre Großmutter sein zu können, aber Sie sind ziemlich attraktiv, oder? Großer Gott, Sie werden ja rot.«
    Sie sagte das so gut gelaunt und mit solch unerwarteter Freude in der Stimme, dass es schwer war, ihr Lächeln nicht zu erwidern. Das war keine Koketterie, das sah ich, nichts in der Art, aber vielleicht war es der Beginn einer Freundschaft. Ich begriff, dass Sie mich mochte, und ich mochte sie auch. Damit hatte ich nicht gerechnet, deshalb war ich nicht hergekommen.
    »Sie sind doch nicht alt«, murmelte ich in meine Tasse. »Sie sind fünfundzwanzig? Sechsundzwanzig?«
    »Hat Ihnen Ihre Mutter nicht beigebracht, dass man eine Dame nicht nach ihrem Alter fragt? Und Sie sind noch ein Junge. Wie alt sind Sie? Neunzehn? Zwanzig?«
    »Einundzwanzig«, sagte ich, und sie legte die Stirn in Falten und überlegte.
    »Aber, Moment mal, das würde ja bedeuten …«
    »Ich habe gelogen, was mein Alter anging«, sagte ich, ohne ihre Frage abzuwarten. »Ich war erst siebzehn, als wir nach drüben kamen. Ich habe gelogen, weil sie mich sonst nicht genommen hätten.«
    »Und ich dachte, Eleanor wäre eine Närrin«, sagte sie, aber durchaus freundlich.
    »Ja«, murmelte ich und sah in meinen Tee.
    »Noch ein Junge.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber sagen Sie mir, Tristan«, sie beugte sich vor, »Sie sind doch kein Hochstapler?«
    »Ich weiß nicht, was ich bin«, sagte ich leise. »Um die Wahrheit zu sagen, habe ich den Großteil der letzten Jahre mit dem Versuch zugebracht, das herauszufinden.«
    Sie lehnte sich zurück und verengte die Augen. »Waren Sie je in der National Gallery?«, fragte sie mich.
    »Ein paar Mal«, antwortete ich etwas überrascht von diesem plötzlichen Themenwechsel.
    »Ich gehe hin, wann immer ich in London bin«, sagte sie. »Ich interessiere mich für Kunst, wissen Sie. Was beweist, dass ich keine Banausin bin. Oh, ich male nicht, verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich liebe Gemälde. Ich gehe ins Museum, suche mir eine Leinwand, die mich fasziniert, und setze mich hin, um sie zu betrachten, eine Stunde vielleicht, manchmal auch den ganzen Nachmittag. Ich lasse das Bild vor meinen Augen neu erstehen. Ich spüre den Pinselstrichen und der Absicht des Künstlers nach. Die meisten Leute schauen einmal schnell hin und gehen auch schon weiter. Sie haken die Bilder nacheinander auf ihrer Liste ab, im Vorbeigehen, und denken, sie haben das Werk eines Künstler gesehen. Aber wie kann man einer Sache so gerecht werden? Ich sage das, Mr Sadler, weil Sie mich an ein Gemälde erinnern. Ihre letzte Bemerkung, ich weiß nicht genau, was sie bedeutet, aber ich glaube, Sie haben sie mit Bedacht gewählt.«
    »Ich wollte nichts Besonderes damit ausdrücken«, erwiderte ich. »Ich habe das nur so gesagt.«
    »Nein, das ist eine Lüge«, sagte sie ungerührt. »Ich habe das Gefühl, wenn ich Sie nur lange genug ansehe, verstehe ich Sie vielleicht. Wenn ich versuche, Ihre Pinselstriche zu erkennen. Klingt das vernünftig?«
    »Nein«, sagte ich mit fester Stimme.
    »Und das ist schon wieder gelogen. Aber nun …« Sie zuckte mit dem Schultern und wandte den Blick ab. »Es wird etwas kalt hier drinnen, meinen Sie nicht?«
    »Mir ist warm genug«, erwiderte ich.
    »Ich glaube, ich bin etwas verwirrt«, sagte sie. »Ich muss immer wieder an das mit Eleanor Martin denken. Es ist so merkwürdig, dass Will das

Weitere Kostenlose Bücher