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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Als wären wir schon so gut wie tot. Wir haben gelernt, geradeaus zu schießen und überlegt und präzise mit dem Bajonett umzugehen, damit wir wenigstens noch ein paar Tage oder Wochen in uns hatten. Die Kaserne war voller Geister, Marian. Verstehen Sie das? Es war, als brächen wir schon als Tote aus England auf. Und als ich dann doch nicht getötet wurde, als ich am Ende einer der Glücklichen war … Nun, am Anfang waren wir zwanzig, zwanzig Mann, und nur zwei sind zurückgekommen. Einer, der durchgedreht ist, und ich. Das heißt jedoch nicht, dass wir überlebt haben. Vielleicht bin ich nicht in Frankreich begraben worden, trotzdem bin ich noch dort. Mein Geist, meine ich. Ich glaube, ich atme nur, das ist alles. Und es gibt einen Unterschied zwischen Atmen und Leben. Aber zurück zu Ihrer Frage: Bin ich ein Romantiker? Denke ich ans Heiraten und Mich-wieder-Verlieben? Nein, das tue ich nicht. Es scheint mir so sinnlos, so ganz und gar belanglos. Ich weiß nicht, was das über mich aussagt. Ob es bedeutet, dass da in meinem Kopf etwas nicht stimmt? Die Sache ist, dass da schon immer etwas in meinem Kopf nicht gestimmt hat, wissen Sie. So lange ich zurückdenken kann. Und ich wusste nie, was ich daran ändern konnte. Ich hab’s nie kapiert. Und jetzt, nach allem, was geschehen ist, nach allem, was ich getan habe …«
    »Tristan, hören Sie auf«, sagte Marian, streckte unerwartet den Arm aus und ergriff meine Hand, die merklich zitterte und mich aufs Neue verlegen machte. Mir wurde bewusst, dass mir ein paar Tränen herunterrannen, nicht viele, nur ein paar, und das machte mich noch verlegener, und ich wischte sie mit dem Rücken der linken Hand weg. »Ich hätte Sie das nicht fragen dürfen«, sagte sie. »Das war gedankenlos von mir. Sie müssen mir nichts erzählen, was Sie nicht erzählen wollen. Großer Gott, Sie sind den ganzen Weg hier heraufgekommen, um mich zu treffen und mir dieses große Geschenk zu machen, mir von meinem Bruder zu erzählen, und so danke ich es Ihnen. Können Sie mir noch einmal vergeben?«
    Ich lächelte und zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nichts zu vergeben«, sagte ich. »Es ist nur … Sie sollten keinen von uns dazu bringen, über diese Dinge zu reden. Sie sagten, Sie haben Freunde, Soldaten, die zurückgekommen sind?«
    »Ja.«
    »Und? Reden die gerne darüber?«
    Marian überlegte einen Moment und wirkte unsicher. »Das ist schwer zu beantworten«, sagte sie. »Manchmal habe ich das Gefühl, ja, sie tun es gern, weil sie dann kaum damit aufhören können. Aber sie geraten immer ganz außer sich. Genau wie Sie gerade. Gleichzeitig denke ich, dass es gar nicht anders geht: dass sie jeden einzelnen Moment wieder und wieder neu durchleben müssen. Wie lange, denken Sie, wird das so gehen?«
    »Ich weiß es nicht. Eine lange Zeit.«
    »Aber es ist vorbei«, sagte sie. »Der Krieg ist vorbei! Und Sie sind ein junger Mann, Tristan. Sie sind erst einundzwanzig Jahre alt. Sie waren noch ein Kind, als Sie nach Frankreich gekommen sind. Siebzehn! Sie dürfen sich davon nicht kaputt machen lassen. Denken Sie an Will.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Nun, er ist tot, oder? Er hat nicht mal die Chance, außer sich zu geraten und mit seinen schlimmen Erinnerungen leben zu müssen.«
    »Ja«, sagte ich, und der vertraute stechende Schmerz ergriff erneut von meinem Körper Besitz. Ich atmete laut aus und rieb mir die Augen mit den Handrücken. Schließlich blinzelte ich ein paarmal und sah sie an. »Können wir gehen?«, fragte ich. »Ich brauche etwas frische Luft.«
    »Aber ja«, sagte sie und klopfte auf den Tisch, womit sie offenbar sagen wollte, dass wir das schon längst hätten tun sollen. »Sie müssen doch noch nicht zurück nach London? Ich unterhalte mich gern mit Ihnen.«
    »Nein, noch nicht«, sagte ich. »Der letzte Zug geht erst in ein paar Stunden.«
    »Gut. Es ist so ein schöner Tag, dass ich dachte, wir könnten ein Stück spazieren gehen. Ich möchte Ihnen einige der Orte zeigen, an denen Will und ich groß geworden sind. Sie müssen ein bisschen was von Norwich sehen, es ist wirklich eine schöne Stadt. Später könnten wir zusammen etwas essen. Und dann hätte ich noch gern, dass Sie eine Sache für mich tun – was es ist, sage ich Ihnen aber erst nach dem Essen, falls es Ihnen nichts ausmacht. Wenn ich jetzt schon damit komme, werden Sie es vermutlich ablehnen, und das möchte ich nicht.«
    Ich erwiderte darauf zunächst nichts und nickte schließlich.

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