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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Leben gesehen. »Gehen Sie mir aus dem Weg.«
    »Ich gehe Ihnen nicht aus dem Weg«, sagte der Mann. »Hören Sie, ich will keinen Ärger machen, aber Sie und ich, wir müssen reden.«
    »Gehen Sie mir aus dem Weg!«, wiederholte ich jetzt lauter und sah, wie sich das Pärchen und die Kellnerin überrascht zu uns umdrehten. Ich fragte mich, ob Marian mich ebenfalls gehört hatte, aber unser Tisch stand hinter der Ecke verborgen, sodass ich es nicht sagen konnte. Ich schob den Mann grob zur Seite. Er wehrte sich nicht, und Sekunden später schloss ich mich auf der Toilette ein und ließ den Kopf in die Hände sinken. Ich war am Boden zerstört. Ich weinte nicht, aber ein Wort wiederholte sich wieder und wieder in meinem Kopf, und ich dachte es nicht nur, sondern sprach es laut aus. Mit aller Kraft musste ich mich zusammennehmen, um nicht immer weiter Will, Will, Will zu sagen, während ich mich vor und zurück wiegte, als wäre es das einzige Wort, auf das es ankam, die einzige Silbe, die eine Bedeutung für mich hatte.
    Verlegen kam ich von der Toilette zurück, wobei ich nicht wusste, ob Marian überhaupt gemerkt hatte, wie sehr mich ihre Worte getroffen hatten. Ich sah nicht zu dem Mann hinüber, der mit mir hatte sprechen wollen, spürte seine Anwesenheit aber wie einen schlummernden Vulkan und fragte mich, für wen mich der Kerl wohl hielt. Sein Akzent deutete darauf hin, dass er aus Norfolk stammte, aber da ich mich früher nie in dieser Gegend aufgehalten hatte, sah ich auch keine rechte Möglichkeit, dass wir uns schon einmal begegnet waren. Marian und unsere Kellnerin hatten sich offensichtlich wieder vertragen und unterhielten sich angeregt, als ich zurückkam und mich etwas nervös auf meinen Stuhl setzte.
    »Ich habe Jane gerade um Entschuldigung gebeten«, sagte Marian mit einem Lächeln in meine Richtung. »Ich glaube, ich war ziemlich unhöflich zu ihr, was sie nicht verdient hat. Jane war sehr lieb zu meinen Eltern. Danach, meine ich«, fügte sie hinzu, bemüht, ihre Worte sorgfältig zu wählen.
    »Ich verstehe«, sagte ich und wünschte, dass Jane zurück hinter die Theke gehen und uns allein lassen würde. »Sie kannten Will also?«
    »Seit seiner Kindheit«, erwiderte Jane. »Er war ein paar Klassen unter mir in der Schule, aber ich war ganz schön verliebt in ihn. Einmal hat er beim Gemeindefest mit mir getanzt, und ich dachte, ich würde sterben und zum Himmel auffahren.« Sie sah weg, als sie das sagte, und schien verlegen. »Ich mache mich wohl besser wieder an die Arbeit. Kann ich euch noch etwas bringen, Marian?«
    »Frischen Tee, denke ich. Was sagen Sie, Tristan?«
    »Ja, gerne.«
    »Und hinterher könnten wir einen kleinen Spaziergang machen und etwas essen. Sie müssen hungrig sein.«
    »Das bin ich mittlerweile tatsächlich«, sagte ich. »Aber zuerst noch etwas Tee ist gut.«
    Jane ging den Tee holen, und Marian folgte ihr mit den Augen bis hinter die Theke. »Sie war natürlich nicht die Einzige«, sagte sie, wobei sie sich vorbeugte, die Stimme senkte und einen verschwörerischen Tonfall anschlug.
    »Nicht die Einzige?«, fragte ich.
    »Nicht die Einzige, die verrückt nach meinem Bruder war«, sagte Marian mit einem Lächeln. »Sie würden es nicht glauben, wie sich ihm die Mädchen an den Hals geworfen haben. Selbst meine Freundinnen haben sich in ihn verliebt, und die waren Jahre älter als er.«
    »Nun hören Sie schon auf«, sagte ich und erwiderte ihr Lächeln. »Sie sind doch kaum älter als ich. Aufs Altenteil gehören Sie jedenfalls noch nicht.«
    »Nein, das nicht. Aber es hat mich wahnsinnig gemacht. Ich meine, verstehen Sie mich nicht falsch, Tristan, ich habe meinen Bruder geliebt, bis zur Selbstaufgabe, dennoch blieb er für mich immer eher ein ziemlich verwahrloster und ungekämmter frecher Junge. Als er noch klein war, hatte meine Mutter unglaubliche Schwierigkeiten, ihn dazu zu bewegen, ein Bad zu nehmen. Er schrie das ganze Haus zusammen, wenn die Wanne hervorgeholt wurde. Aber vielleicht sind kleine Jungs nun mal so. Und einige ändern sich nie, wenigstens nach den Männern zu urteilen, die ich so kenne. Deshalb hat mich die Wirkung, die er auf Frauen hatte, ziemlich überrascht. Das gebe ich gern zu.«
    Ich nickte, war mir jedoch nicht sicher, ob das ein Thema war, dem ich weiter folgen wollte. Aber ein Teil von mir, mein masochistischer Teil, konnte nicht anders.
    »Und hat er ihre Gefühle erwidert?«, fragte ich.
    »Manchmal«, sagte sie. »Es gab eine ganze

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