Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
Vom Netzwerk:
neunzehn oder zwanzig und bewegen uns nebeneinander auf den feindlichen Graben zu. Das Feuer bricht ab, ein schwaches Licht ist zu sehen, wahrscheinlich eine Kerze, vielleicht zwei, dann höre ich gedämpfte Stimmen. Was ist denn mit denen los?, frage ich mich. Warum sehen die uns nicht und schießen uns einen nach dem anderen über den Haufen? Warum verdammt noch mal vernichten die uns nicht?
    Aber so werden Kriege gewonnen. Die eine Seite wird für einen kurzen Moment unaufmerksam, und die andere nützt es aus. Und heute, in dieser Nacht, sind wir die Glücklichen. Noch eine Minute, mehr nicht, und wir sind alle auf den Beinen, die geladenen Gewehre erhoben, die Handgranaten bereit, und schon erschallt das Feuer von überall her, und die Funken unserer Schüsse erhellen die Nacht und die Gräben vor uns. Geschrei klingt herauf und das laute Krachen von Holz, das zur Seite geworfen wird. Ich stelle mir eine Gruppe junger deutscher Soldaten vor, die ihre Pflicht vergessen haben und Karten spielen, um die Spannung abzubauen, und dann schwärmen sie unter uns aus wie die Ameisen und greifen zu spät zu ihren Waffen, wir haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite, stehen über ihnen und schießen und laden, schießen und laden, schießen und laden, und unsere Front zerbröckelt ein wenig, während wir uns die gesamte Länge des Grabens hinunterarbeiten, der, wie Will und Hobbs uns versichert haben, fünfhundert Meter lang ist, länger nicht.
    Ein sirrendes Geräusch zischt an meinem Ohr vorbei, ich spüre ein Stechen und denke, ich bin getroffen, aber als ich die Hand seitlich an den Kopf drücke, ist da kein Blut, und in meiner Verwirrung kocht Wut in mir hoch, und ich hebe mein Smiler, richte es wahllos auf die Männer vor mir und drücke den Abzug wieder und wieder und wieder.
    Es knallt, als wäre ein Ballon geplatzt, und der Mann neben mir fällt mit einem Schmerzensschrei zu Boden. Ich kann mich nicht um ihn kümmern, denke aber sofort, dass es Turner ist, der da gefallen ist, Turner, der mich dreimal hintereinander im Schach geschlagen hat und ein absolut gnadenloser Gewinner war.
    Zehn tot, zehn übrig.
    Ich eile voran, zur Seite, stolpere, falle über einen weiteren Körper und denke: Lieber Gott, lass es nicht Will sein , aber nein, als ich hinabsehe, ich kann nicht anders, ist es Unsworth, der da mit weit offenem Mund liegt, das Gesicht schmerzverzerrt, Unsworth, der so unverfroren war, die Klugheit der Strategie infrage zu stellen. Er ist bereits tot. Vor zwei Wochen hatte ich Dienst mit ihm, war etliche Stunden mit ihm allein, und obwohl wir nicht unbedingt befreundet waren, erzählte er mir, sein Mädchen zu Hause habe festgestellt, dass sie in anderen Umständen sei, und ich gratulierte ihm und sagte, ich hätte gar nicht gewusst, dass er verheiratet sei.
    »Bin ich auch nicht«, sagte er und spuckte auf den Boden.
    »Ah«, sagte ich. »Na, so was passiert, nehme ich an.«
    »Bist du wirklich so blöd, Sadler? Ich bin sechs Monate nicht zu Hause gewesen. Das hat nichts mit mir zu tun. Die dreckige Hure.«
    »Dann ist doch alles in Ordnung, oder?«, sagte ich. »Dann musst du dir doch keine Sorgen machen.«
    »Aber ich wollte sie heiraten«, rief er, das Gesicht verzerrt vor Demütigung und Schmerz. »Ich habe sie so geliebt, und dann bin ich keine fünf Minuten aus dem Land, und das war’s.«
    Elf und neun.
    Weiter vor, wir springen nach unten, es ist mein erstes Mal in einem deutschen Graben, und wir schreien wie um unser Leben, während wir durch die fremden Gänge stürmen. Ich schieße weiter wahllos um mich, drehe mich irgendwann um, fälle einen älteren Mann mit dem Kolben meines Gewehrs und höre die Nase oder den Kiefer brechen, als er zu Boden geht.
    Ich kann nicht sagen, wie lange wir schon hier unten sind, und dann haben wir ihn genommen. Wir haben den deutschen Graben eingenommen. Sie sind alle tot, jeder Einzelne von ihnen, und Sergeant Clayton erhebt sich wie Luzifer aus dem Inneren der Hölle, versammelt uns um sich und verkündet, dass wir gute Männer sind und getan haben, was man uns beigebracht hat, dass dies ein wichtiger Sieg des Guten über das Böse ist, wir aber heute Nacht noch weiter müssen. Wir müssen weiter vordringen, eine Meile nordwestlich gibt es einen kleineren Graben, und wir müssen sofort dorthin, sonst büßen wir unseren Vorteil ein.
    »Vier von euch bleiben hier, um die Stellung zu halten«, sagt er, und wir beten alle stumm, dass er uns auswählt.

Weitere Kostenlose Bücher