Das spanische Medaillon
Orakelspruch bezüglich des bevorstehenden Aufeinandertreffens der Armeen war so verhalten wie seine Parteinahme: »Der Wind wird sich drehen, die Nebel verfliegen – Seit an Seite werden sie liegen!« (Zit. nach Carl Stadelmann: Franzosen in Weimar. In: Schriften der Stadelmann-Gesellschaft. Hrsg. von Hans Wahl, Bd. 8, Weimar 1925, S. 17) Nebenbei bemerkt: Zehn Tage später, als die Franzosen Weimar überrannten und plünderten, wurde Christiane Vulpius zur Retterin des Goethe’schen Hauses am Frauenplan (sic!) und daraufhin endlich, nach 18 Jahren unehelichen Zusammenlebens, zur Frau Geheimrätin. Goethe hatte übrigens ein Verhältnis mit der Herzogin, wie neueste germanistische Klatschereien wissen wollen ...
Gerardine erinnert sich an ihre Reise mit Königin Luise im Jahr 1806: Am 14. Oktober, frühmorgens, eben nach unserer Ausfahrt aus Weimar in Richtung auf die Armee, brach der Feldwagen der Königin, worauf sie in unsere Kutsche wechseln musste. Jérôme – wie immer voll des Takts – setzte sich sofort nach draußen auf den Kutschbock neben unseren Carl, sodass wir zwei ganz entre nous waren. Da Goethens poetische Prognose des Kriegsverlaufes, die ich ihr referierte, nach unser beider Ansicht nicht ganz so eindeutig war, sprachen wir einander guten Mut zu. Die Königin, erst im März zur Chefin des Pommerschen Kürassier-Regiments No. 2, der Königin-Dragoner, geworden, brannte darauf, ihre Soldaten in die entscheidende Schlacht zu führen. Oh, wie gern trug sie ihre Uniform! Der König hatte sie höchstpersönlich entworfen und sie stand ihr ausnehmend gut. Ich muss sagen – am König war ein richtiger Militärcouturier verloren gegangen. Über nichts konnte man sich besser mit ihm unterhalten, als über Litzen, Borten, Saumaufschläge und Knöpfe (von Ballonen, Perspektiven und Raketen einmal abgesehen ...). Lange hatte seine Gattin hin- und herüberlegt, ob sie den schwarzen Tschako mit dem gravierten Messingschild oder den grün schillernden Zylinder mit dem Puschel vorne zu ihrer himmelblau-silbernen Uniformjacke tragen sollte. Auch war es noch immer nicht entschieden, ob sie nicht statt des Uniformfracks die hermelinpelzverbrämte Jacke anlegen würde, wenn sie vor die Truppe träte. Ich riet ihr, den Nebel und die kühle Witterung in Rechnung stellend, zu Letztem, allerdings wollte sie dazu unbedingt das Dekolleté offen lassen, was mir wie ein Backfischscherz vorkam, und ich überlegte schon krampfhaft, wie ich es ihr ausreden könnte ... Da sagte sie: »Es ist schon merkwürdig, wie sich ein Mensch verändert, meinen Sie nicht, liebste Freundin? In einem einzigen Leben!« Ich beobachtete sie von der Seite, denn sie sprach, während sie aus dem Fenster schaute – angestrengt hatte sie über das nachgedacht, was sie sagte. Eine Strähne ihres Blondhaares wurde von einem winzigen Seitenarm des Fahrtwinds bewegt, der durch einen Schlitz hereinströmte. Sie setzte probehalber wie der den Tschako auf und versuchte das eigene Spiegelbild in der schmutzigen Scheibe zu erhaschen, hinter der die Nebelschlieren vorüberstrichen. Irgendwas am Haar schien ihr nicht zu gefallen, sodass sie sich dahinein vertiefte, angestrengt herumzuzupfen. »Ich verstehe, was Majestät meinen«, erwiderte ich vorsichtig. »Ich muss dabei an Goethe denken: Was war er einst für ein Energiebündel. Nun ist er alt geworden und staubig, richtig hölzern!« Luise schüttelte sanft den Kopf. »Sicher, meine Liebe, mag eine gewisse Respektabilität an Goethen sein, die man nicht eben bei einem Jungen sähe. Ich finde ihn trotzdem noch immer frisch, soweit ich es von der Loge im Theater aus beurteilen kann. Die Herzogin schwärmte später bei Tisch von ihm, als sei er ihr Liebhaber! Ist das nicht zum Schießen! (Nicht doch lieber den Tschako, das Hütchen, den Tschako?) Es ging fast um nichts anderes. Die Frau ist das, was mir in Darmstadt früher eine überdrehte Quatschbase genannt haben ...« Wir mussten lachen. Am »mir« hatte ich erkannt, dass sie das Hessische noch immer nicht ganz vergessen. Sie fuhr fort: »Ihren feinen Sinn, meine Liebe, und die direkte Bekanntschaft mit dem Weimarer habe ich natürlich nicht. Trotzdem: Goethes Altwerden meinte ich nicht. Was ich zum Ausdruck bringen wollte, ist vielmehr: Ist es nicht seltsam, wie man sich dreht und auf einmal in die Gegenrichtung geht, ohne die Kehre richtig bemerkt zu haben?« Solch tiefsinnige Philosophie war mir neu an ihr. Aber ich ging willig darauf ein, denn mir
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