Das Spiel
Brandon an ihre Seite kommt, der perfekte edle Ritter, wenn es je einen gab, aber er hört eindeutig nicht Brandons leises Knurren: »Mach den Schleier runter, Jessie, verdammt, sonst mach ich es!«
Sie weigert sich nicht nur, zu tun, was er sagt, sie weigert sich, auch nur in seine Richtung zu sehen. Sie weiß, dass er eine leere Drohung ausgesprochen hat – er wird in diesen heiligen Hallen keine Szene machen und ziemlich alles tun, damit er nicht in eine verwickelt wird -, aber selbst wenn es nicht so wäre, würde es keine Rolle spielen. Sie mag Brandon aufrichtig, aber die Zeiten, als sie etwas gemacht hat, nur weil ein Mann es ihr gesagt hat, sind endgültig vorbei. Sie bekommt nur am Rande mit, dass Brandon ihr etwas zuzischt, dass der Richter immer noch mit dem Verteidiger und dem Staatsanwalt beratschlagt, dass der Gerichtsdiener wieder in sein Halbkoma gesunken ist, dass die Stenografin langsam und mit verträumtem Gesicht eine Seite umblättert. Jessies eigenes Gesicht ist zu dem freundlichen Lächeln gefroren, mit dem sie den Gerichtsdiener entwaffnet hat, aber ihr Herz schlägt heftig. Sie ist jetzt noch zwei Schritte von der Kordel entfernt – zwei kurze Schritte – und kann sehen, dass sie sich geirrt hat. Joubert schreibt doch nicht. Er zeichnet. Das Bild eines Mannes mit erigiertem Penis, der etwa so groß wie ein Baseballschläger ist. Der Mann auf dem Bild hat den Kopf gesenkt und übt an sich selbst Fellatio aus. Sie kann das Bild vollkommen deutlich sehen, aber vom Künstler selbst immer noch nur ein blasses Scheibchen Wange und die dunklen Haarsträhnen, die davor baumeln.
»Jessie, du kannst nicht …«, beginnt Brandon und hält sie am Arm fest.
Sie reißt sich los, ohne sich umzudrehen; ihre ganze Aufmerksamkeit ist jetzt auf Joubert gerichtet. »He!«, sagt sie mit einem Bühnenflüstern zu ihm. »He, du!«
Nichts, jedenfalls noch nicht. Ein Gefühl des Unwirklichen überkommt sie. Kann sie es sein, die das macht? Kann sie es wirklich sein? Und was das betrifft, macht sie es überhaupt? Niemand scheint sie zu bemerken, gar niemand.
»He! Arschloch!« Lauter, wütend – immer noch ein Flüstern, aber gerade noch. »Pst! Pst! He, ich spreche mit dir!«
Jetzt sieht der Richter stirnrunzelnd auf, also nimmt anscheinend wenigstens einer sie zur Kenntnis. Brandon stößt ein verzweifeltes Stöhnen aus und legt ihr eine Hand auf die Schulter. Hätte er versucht, sie in den Gang zurückzuziehen, hätte sie sich von ihm losgerissen und dabei wahrscheinlich das Oberteil ihres Kleides aufgeschlitzt; und vielleicht weiß Brandon das, denn er zwingt sie nur, sich auf die leere Bank gleich hinter dem Tisch der Verteidigung zu setzen (alle Bänke sind leer; strenggenommen ist es eine nichtöffentliche Verhandlung), und in diesem Augenblick dreht sich Raymond Andrew Joubert schließlich herum.
Sein groteskes Asteroidengesicht mit den aufgedunsenen, schmollenden Lippen, der schmalen Nase und der gewölbten Glühbirnenstirn ist vollkommen ausdruckslos, völlig ohne Neugier … aber es ist das Gesicht, das weiß sie sofort, und das übermächtige Gefühl, das sie empfindet, ist weitgehend kein Schrecken. Weitgehend ist es Erleichterung.
Dann strahlt Jouberts Gesicht mit einem Mal. Seine eingefallenen Wangen bekommen Farbe, wie ein Ausschlag sieht es aus, und in die rot umränderten Augen tritt das tückische Funkeln, das sie schon einmal gesehen hat. Sie betrachten sie jetzt, wie sie sie am Kashwakamak Lake betrachtet haben, mit der gebannten Faszination des unrettbar Geistesgestörten, und sie ist starr und hypnotisiert von dem grässlichen Wiedererkennen, das sie in seinen Augen sieht.
»Mr. Milheron?«, fragt der Richter schneidend aus einem anderen Universum. »Mr. Milheron, können Sie mir sagen, was Sie da machen und wer diese Frau ist?«
Raymond Andrew Joubert ist fort; dies ist der Space Cowboy, das Gespenst der Liebe. Die unproportionalen Lippen bewegen sich wieder und entblößen die Zähne – die fleckigen, unschönen und rein funktionellen Zähne eines wilden Tieres. Weit hinten in der Mundhöhle sieht sie Gold schimmern wie Katzenaugen. Und langsam, oh, so langsam erwacht der Alptraum zum Leben und bewegt sich; der Alptraum hebt langsam die missgebildeten langen Arme.
»Mr. Milheron, ich möchte, dass Sie und Ihr ungebetener Gast unverzüglich zum Richterpult kommen!«
Der Gerichtsdiener, den der schneidende Tonfall aufschreckt, erwacht zuckend aus seinem Dösen. Die Stenografin
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