Das Spiel
hat – habe ich diese Stimmen fast unablässig gehört. Vielleicht war es eine versehentliche, unbewusste Art von Therapie, als Will mich gekniffen hat, das wäre, glaube ich, möglich: Sagt man nicht, dass unsere Vorfahren das Kochen erfunden haben, indem sie aßen, was nach Waldbränden übrig blieb? Aber falls eine behelfsmäßige Therapie an dem Tag stattgefunden hat, wahrscheinlich nicht, als Will mich gekniffen hatte, sondern als ich mich umdrehte und ihm dafür eine aufs Maul geschlagen habe … aber heute ist das alles nebensächlich. Wichtig ist, nach dem Tag auf der Veranda habe ich zwei Jahre lang meinen Kopf mit einem flüsternden Chor von Stimmen geteilt, Dutzenden Stimmen, die ihr Urteil über jede meiner Taten und jedes meiner Worte abgaben. Manche waren gütig und hilfreich, aber die meisten waren Stimmen von ängstlichen Menschen, verwirrten Menschen, die dachten, Jessie wäre ein wertloser Klotz am Bein, der alles Schlechte verdiente, was ihm widerfuhr, und für alles Gute doppelt bezahlen musste. Ich hörte diese Stimmen zwei Jahre lang, Ruth, und als sie aufhörten, habe ich sie vergessen. Nicht nach und nach, sondern auf einmal.
Wie konnte so etwas passieren? Ich weiß nicht, und es ist mir offengestanden auch ziemlich egal. Das wäre es nicht, wenn dadurch alles nur noch schlimmer geworden wäre, aber das ist es nicht – ganz im Gegenteil, alles hat sich geradezu unvorstellbar verbessert. Ich habe die zwei Jahre zwischen der Sonnenfinsternis und der Geburtstagsparty in einer Art Zwischenreich verbracht, wo mein Verstand in eine Menge brabbelnder Bruchstücke zerschellt war, und die wahre Epiphanie war diese: Wenn ich dem netten, gütigen Brandon Milheron seinen Willen gelassen hätte, wäre ich genau da gewesen, wo ich angefangen hatte – in Richtung Irrenhaus-Road über den Schizophrenie-Boulevard. Und dieses Mal wäre kein kleiner Bruder parat gewesen, der eine krude Psychotherapie herbeiführen konnte; dieses Mal musste ich es selbst machen, wie ich mich auch allein aus Geralds Handschellen befreien musste.
Brandon beobachtete mich und versuchte die Wirkung seiner Worte abzuschätzen. Es muss ihm nicht gelungen sein, weil er es noch einmal sagte, dieses Mal etwas anders. »Du darfst nicht vergessen, wie es auch aussehen mag, dass du dich geirrt haben könntest. Und ich glaube, du musst dich damit abfinden, dass du es so oder so nie mit Sicherheit wissen wirst.« »Nein, das muss ich nicht.« Er zog die Brauen hoch. »Es besteht immer noch eine ausgezeichnete Chance, dass ich es mit Sicherheit herausfinde. Und du wirst mir dabei helfen, Brandon.«
Er wollte wieder dieses alles andere als angenehme Lächeln aufsetzen, von dem er, jede Wette, nicht einmal weiß, dass es zu seinem Repertoire gehört, das, das sagen soll, man kann nicht mit ihnen leben, aber man kann sie auch nicht erschießen. »Ach? Und wie werde ich das machen?«
»Indem du mich zu Joubert bringst«, sagte ich.
»O nein«, sagte er. »Das werde ich auf gar keinen Fall machen – das kann ich nicht machen, Jessie.«
Ich will Dir das stundenlange Hin und Her ersparen, das darauf folgte, ein Gespräch, das an einem Punkt sogar zu so profunden intellektuellen Bemerkungen wie »Du bist verrückt, Jess« und »Schreib mir nicht vor, wie ich mein Leben zu leben habe, Brandon« degenerierte. Ich überlegte mir, ob ich den Morgenstern der Presse vor ihm schwingen sollte – das hätte ihn mit ziemlicher Sicherheit gefügig gemacht -, aber letztlich war es gar nicht nötig. Ich musste nur weinen. In gewisser Weise komme ich mir ungeheuer verdorben vor, jetzt, wo ich das schreibe, aber andererseits auch wieder nicht; in gewisser Weise erkenne ich darin eines von vielen Symptomen dessen, was bei diesem speziellen Squaredance zwischen Buben und Mädchen nicht stimmt. Weißt Du, er hat nicht richtig geglaubt, dass es mein Ernst ist, bis ich angefangen habe zu weinen.
Langer Rede, kurzer Sinn, er ging zum Telefon, erledigte vier rasche Anrufe und kam mit der Neuigkeit zurück, dass Joubert am nächsten Tag wegen einiger kleinerer Vergehen – hauptsächlich Diebstahl – im Bezirksgericht von Cumberland County angeklagt werden würde. Er sagte, wenn es wirklich mein Ernst wäre – und wenn ich einen Hut mit Schleier besitzen würde -, könnte er mich zur Verhandlung mitnehmen. Ich stimmte sofort zu, und obwohl Brandons Gesicht sagte, dass er seiner Meinung nach einen der größten Fehler seines Lebens machte, hielt er Wort.
Jessie
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