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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Schwanz, den er verwesenden toten Männern in den Mund gesteckt hat – in mich reinschiebt, wenn er mir nur versprochen hätte, dass ich nicht wie ein Hund an Muskelkrämpfen und Spasmen hätte sterben müssen. Wenn er mir nur versprochen hätte, MICH ZU BEFREIEN.
     
    Jessie hielt einen Augenblick inne und atmete so schnell und schwer, dass sie fast keuchte. Sie betrachtete die Worte auf dem Bildschirm – das unglaubliche, unaussprechliche Eingeständnis – und verspürte den heftigen Wunsch, sie zu löschen. Nicht weil sie sich schämte, dass Ruth sie lesen würde; das auch, aber das war nicht das Wesentliche. Sie wollte sich nicht damit auseinandersetzen, und wenn sie sie nicht löschte, würde sie genau das tun müssen. Worte haben eine Art, ihre eigenen Zwänge zu schaffen.
    Erst wenn du sie aus der Hand gibst, dachte Jessie und streckte den schwarz umhüllten Zeigefinger der rechten Hand aus. Sie berührte die Löschtaste – streichelte sie förmlich -, aber dann zog sie den Finger wieder zurück. Es stimmte doch, oder nicht?
    »Ja«, sagte sie mit derselben murmelnden Stimme, die sie während ihrer Gefangenschaft so oft benutzt hatte – nur sprach sie jetzt nicht mehr mit Goody oder der Fantasie-Ruth; sie hatte wieder zu sich selbst gefunden, ohne dabei ganz um Robin Hoods Scheune herumzugehen. Das war möglicherweise eine Art Fortschritt. »Ja, es stimmt wirklich.«
    Es war die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr ihr Gott helfe. Sie würde die Wahrheit nicht mit der Löschtaste ausradieren, so schlimm manche Leute – sie selbst eingeschlossen – diese Wahrheit auch finden mochten. Sie würde sie stehen lassen. Sie beschloss vielleicht doch noch, den Brief nicht abzuschicken (sie wusste nicht, ob es überhaupt fair war, eine Frau, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte, mit diesem Wust an Schmerz und Wahnsinn zu belasten), aber löschen würde sie sie nicht. Was bedeutete, es wäre am besten, wenn sie zum Schluss kam, schnellstmöglich, bevor sie der letzte Mut und die letzte Kraft verließen.
    Jessie beugte sich nach vorne und fing wieder an zu tippen.
     
    Brandon sagte: »Eins musst du bedenken und akzeptieren, Jessie – es gibt keinen empirischen Beweis. Ja, ich weiß, dass deine Ringe fort sind, aber diesbezüglich hättest du von Anfang an Recht haben können – ein langfingriger Polizist hat sie vielleicht mitgehen lassen.«
    »Was ist mit Beweisstück 217?«, fragte ich. »Der Weidenkorb.« Er zuckte die Achseln, und ich erlebte jene plötzliche Erkenntnis, die die Dichter Epiphanie nennen. Er klammerte sich an die Möglichkeit, dass der Weidenkorb nur Zufall gewesen war. Das war nicht leicht, aber leichter als akzeptieren zu müssen, dass ein Monster wie Joubert tatsächlich das Leben von jemandem, den er kennt und achtet, gestreift haben konnte. Was Brandon Milherons Gesicht an dem Tag ausdrückte, war schlicht und einfach: Er hatte vor, einen ganzen Stapel Indizienbeweise zu ignorieren und sich stattdessen auf das Fehlen von empirischen Beweisen zu konzentrieren. Er wollte glauben, dass ich mir alles nur eingebildet hatte, dass ich auf den Fall Joubert zurückgegriffen hatte, um eine besonders lebensechte Halluzination zu erklären, die ich hatte, während ich mit Handschellen ans Bett gefesselt war.
    Und dieser Einsicht folgte eine zweite auf den Fuß, die noch deutlicher war: dass ich es auch glauben könnte. Ich hätte mich zu der Überzeugung durchringen können, dass ich mich geirrt hatte … aber hätte ich das gemacht, wäre mein Leben ruiniert gewesen. Die Stimmen wären wiedergekommen – nicht nur Deine oder die von Punkin und Nora Callighan, sondern auch die meiner Mutter und meiner Schwester und meines Bruders und von Kindern an der Highschool und Leuten, die ich zehn Minuten im Wartezimmer des Arztes gesehen habe und weiß Gott von wie vielen anderen. Ich glaube, die meisten wären diese furchteinflößenden UFO-Stimmen gewesen.
    Das könnte ich nicht ertragen, Ruth, denn in den zwei Monaten nach meiner schweren Zeit am See ist mir vieles eingefallen, was ich jahrelang unterdrückt hatte. Ich glaube, die wichtigste Erinnerung kam mir zwischen der ersten und zweiten Operation an meiner Hand, als ich »unter Medikamenteneinfluss« war (das ist der medizinische Fachausdruck für besinnungslos angetörnt). Die Erinnerung war folgende: In den zwei Jahren zwischen der Sonnenfinsternis und der Geburtstagsparty meines Bruders Will – als er mich beim Krocketspiel gekniffen

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