Das Spiel
machte wieder eine Pause, und als sie weitertippte, tippte sie langsam und sah durch den Bildschirm ins Gestern, als die zwölf Zentimeter Schnee der vergangenen Nacht nur eine fahlweiße Bedrohung am Himmel gewesen waren. Sie sah blaue Blinklichter vorne auf der Straße und spürte, wie Brandons blauer Beamer abbremste.
Wir kamen zu spät zur Verhandlung, weil ein umgestürzter Lastwagen auf der Interstate 295 lag – das ist die Stadtumgehung. Brandon hat es nicht ausgesprochen, aber ich weiß, er hat gehofft, wir würden völlig zu spät kommen, sie hätten Joubert schon wieder in seine Zelle am Ende des Hochsicherheitstrakts im County-Gefängnis gebracht, aber der Wachmann am Gerichtstor sagte, die Verhandlung wäre noch im Gange, würde sich aber dem Ende nähern. Als Brandon mir die Tür aufhielt, beugte er sich dicht an mein Ohr und flüsterte: »Mach den Schleier runter, Jessie, und lass ihn unten.« Ich zog ihn herunter, worauf Brandon mir eine Hand um die Taille legte und mich hineinführte. Der Gerichtssaal …
Jessie hielt inne und sah mit großen und grauen und leeren Augen in den dämmerigen Nachmittag hinaus.
Sie erinnerte sich.
38
Der Gerichtssaal wird von hängenden Milchglaskugeln erhellt, die Jessie mit den Five-and-Dime-Geschäften ihrer Kindheit assoziiert, und er ist so verschlafen wie ein Grundschulklassenzimmer am Ende eines Wintertags. Während sie den Mittelgang entlanggeht, nimmt sie zweierlei Empfindungen wahr – Brandons Hand, die immer noch auf der Krümmung ihrer Taille liegt, und den Schleier, der ihre Wangen wie Spinnweben kitzelt. Diese beiden Empfindungen zusammengenommen bewirken, dass sie sich auf seltsame Weise wie eine Braut vorkommt.
Zwei Anwälte stehen vor dem Pult des Richters. Der Richter beugt sich nach vorne und sieht ihnen ins Gesicht, alle drei sind in eine gemurmelte Unterhaltung vertieft. Für Jessie sehen sie wie Nachbildungen einer Skizze von Boz aus einem Roman von Charles Dickens aus. Der Gerichtsdiener steht links, neben der amerikanischen Flagge. Neben ihm liest die Stenografin Die Frau des Feuergottes von Amy Tan, während sie darauf wartet, dass die momentane rechtliche Diskussion zu Ende geht. An einem langen Tisch auf der anderen Seite der Kordel, die den Saal in den Bereich für die Zuschauer und den für die Kontrahenten unterteilt, sitzt eine hagere, unglaublich große Gestalt im grellorangefarbenen Gefängnisoverall. Daneben sitzt ein Mann im Anzug, sicher ein weiterer Anwalt. Der Mann im orangefarbenen Overall bückt sich über einen Block gelben Kanzleipapiers und schreibt offenbar etwas.
Jessie spürt eine Million Meilen entfernt, wie sich Brandons Hand fester um ihre Taille legt. »Das ist nahe genug«, murmelt er.
Sie rückt von ihm ab. Er irrt sich; es ist nicht nahe genug. Brandon hat nicht die leiseste Ahnung, was sie denkt oder fühlt, aber das macht nichts; sie selbst weiß es. Im Augenblick sind ihre sämtlichen Stimmen zu einer einzigen Stimme geworden; sie sonnt sich in dieser unerwarteten Einigkeit und weiß genau: Wenn sie jetzt nicht näher zu ihm geht, wenn sie nicht, so nahe sie kann, zu ihm geht, wird er niemals weit genug entfernt sein. Er wird immer im Schrank lauern, vor dem Fenster oder um Mittemacht unter dem Bett, wo er sein teigiges, runzliges Grinsen grinsen wird – bei dem man die Goldzähne weit hinten im Mund funkeln sieht.
Sie geht rasch den Gang entlang zur Kordel, während der Gazestoff des Schleiers ihre Wangen wie winzige, besorgte Finger berührt. Sie kann Brandon unglücklich murren hören, aber das ist mindestens zehn Lichtjahre entfernt. Näher (aber immer noch auf dem nächsten Kontinent) murmelt einer der Anwälte vor dem Richterpult: »… Eindruck, dass der Staat in dieser Frage unnachgiebig war, Euer Ehren, und wenn Sie unsere Präzedenzfälle studieren – besonders Castonguay gegen Hollis …«
Noch näher sieht der Gerichtsdiener zu ihr auf, ist einen Moment argwöhnisch, entspannt sich aber, als Jessie den Schleier hebt und ihm zulächelt. Der Gerichtsdiener sieht ihr unverwandt in die Augen, während er gleichzeitig mit dem Daumen in Jouberts Richtung deutet und unmerklich den Kopf schüttelt, eine Geste, die sie in ihrem Zustand gesteigerter Emotionen und Wahrnehmungen mühelos lesen kann wie eine Schlagzeile der Regenbogenpresse: Halten Sie sich vom Tiger fern, Ma’am. Kommen Sie nicht in Reichweite seiner Krallen. Dann entspannt er sich noch mehr, als er sieht, wie
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