Das Spiel
Kamera. »Könnt ihr die Szene vielleicht wiederholen? Bisher habe ich nur so langweiliges Zeug drauf, na ja, bis auf Robert, wie er ausgeflippt ist, aber sonst herrscht hier so eine Art verzweifelte Harmonie. Also, David Freeman, womit wollten Sie Chris Bishop drohen?«
*
»Stopp! Haltet doch mal die Klappe!« Debbie erhob sich halb von ihrem Stuhl und spähte über die Tische zur Essensausgabe. Die Mensa hatte sich mittlerweile geleert, es war spät geworden. »Leute, wir werden beobachtet! Und zwar von Angela! Angela Finder! Sie ist eine Berühmtheit am Grace.«
»Von wem?«, fragte Chris irritiert.
»Das Mädchen im Rollstuhl! Angela Finder! Habt ihr noch nicht von ihr gehört?« Debbie musste über einen Verstärker in ihrem Gehirn verfügen, über den sie die Lautstärke ihrer Stimme regulieren konnte. Noch nie hatte Julia jemanden getroffen, der so die Stimme modulieren konnte.
»Und, oh Gott, jetzt kommt sie direkt auf uns zu.«
Julia wandte den Kopf nach links und bemerkte als Erstes lange schmale Hände mit rot lackierten Fingernägeln. Dann eines dieser Bettelarmbänder, an denen unzählige Anhänger hingen, mit denen der Träger sein Sternzeichen, seine Hobbys und – noch schlimmer – seine Reiseandenken mit sich trug.
Die Hände ruhten auf den breiten Reifen eines Rollstuhls. Das Mädchen trug Billigjeans und einen Kapuzenpulli mit der Aufschrift: Grace College. Sie mochte vier, fünf Jahre älter sein als Julia und die anderen. Wegen ihres starken Make-ups konnte man das aber nicht genau sagen. Ihre Haare waren fast so rot gefärbt wie ihre Fingernägel.
»Warum flüsterst du denn plötzlich, Debbie?«, fragte Chris spöttisch und riss mit einer Bewegung den Deckel von seinem Joghurtbecher.
»Ich glaube, sie hasst es, wenn man über sie spricht.«
»Und das kümmert ausgerechnet dich?«
Eine laute, energische Stimme in ihrem Rücken unterbrach ihn. »Hör auf! Sofort!«
Das Mädchen im Rollstuhl war direkt vor Benjamin stehen geblieben, der auf einen Stuhl geklettert war und aus dieser Position seine Videokamera auf den Rollstuhl richtete.
»Hast du nicht verstanden? Mach die Kamera aus! Ich werde dich sonst verklagen wegen Diskriminierung und Beleidigung von Behinderten. Außerdem erhältst du eine Anzeige wegen Verletzung meiner Persönlichkeitsrechte und Verletzung des Datenschutzes.«
Nun wurde es nicht nur am Tisch still. Die wenigen Studenten, die noch in der Mensa waren, reckten neugierig die Köpfe.
»Reg dich ab«, sagte Benjamin und sprang vom Stuhl. »Es ist nicht so etwas Besonderes, im Rollstuhl zu sitzen, dass du dich hier so aufgeilen musst. Ich habe schon alles Mögliche gefilmt. Liliputaner, Transvestiten und eine Frau, der der Krebs die Nase buchstäblich weggefressen hat.«
»Benjamin Fox«, erwiderte das Mädchen, und im nächsten Moment hob sie die schmale blasse Hand und ein zarter Mittelfinger hob sich zu der Geste, die international die Topliste der Superbeleidigungen anführte. »Du kannst mich mal!«
»Und du mich auch, Angela!« Im nächsten Moment drehte Benjamin ihr den Rücken zu und zog die weite Jeans so schnell nach unten, dass Julia glaubte, sie würde sich das Ganze nur einbilden.
Geflüster um sie herum, dann lautes Gelächter.
Julia sah, wie Robert angewidert sein Gesicht verzog. Von Natur aus höflich und zurückhaltend, konnte er nicht verstehen, weshalb andere die Grenzen nicht einhielten. Mit Leuten wie Benjamin, die sich auf Kosten anderer lustig machten, hatte er immer Probleme.
Die Blicke der Übrigen dagegen waren gespannt auf Angela gerichtet. Alle erwarteten neugierig ihre Reaktion. Doch das Mädchen blieb erstaunlich ruhig. »Das nehme ich gerne an, Benjamin Fox. Verlass dich drauf.«
Sie kniff die Augen zusammen und auf ihr Gesicht trat ein seltsames Lächeln. Ihre langen schmalen Hände lagen ruhig auf den Rädern und im nächsten Moment drehte sich der Rollstuhl und Angela fuhr, ohne sich noch einmal umzusehen, durch den Speisesaal zur Tür hinaus.
Julia sah ihr verblüfft hinterher, fasziniert davon, welche Selbstbeherrschung das Mädchen besaß. Angela war soeben vor allen anderen beleidigt und bloßgestellt worden. Und statt auszurasten, hatte sie einfach nur gelächelt. Aber genau dieses Lächeln war es gewesen, das so deutlich gemacht hatte, wer in Wirklichkeit die Situation beherrschte. Es war effektvoller als jede laute Drohung gewesen.
Und schlagartig wurde Julia bewusst, wen sie da eben vor sich gehabt hatte. Angela war
Weitere Kostenlose Bücher