Das Spiel
schien, als sei es hier dasselbe – ein See, die Party, der Alkohol –, war es doch ganz anders. Und sie wusste auch, weshalb. Es war die Stille im Tal. Es war schwer zu erklären. Aber trotz der Musik, trotz des Gelächters, trotz der lauten Stimmen fehlte etwas Entscheidendes. Vogelgezwitscher, das Summen von Insekten, das Rascheln von Ästen. Und auch die Wolke am Himmel schien sich nicht zu rühren. Alles gerade so, als ob die Natur in den Standby-Modus geschaltet hätte.
Roberts Stimme riss sie aus den Gedanken. »Ich sitze schon über eine Stunde hier und habe jedenfalls noch keinen einzigen Fisch gesehen.«
»Vielleicht hast du recht und ihnen ist es wirklich zu kalt.« Sie starrte auf das Wasser.
Unterhalb des Bootssteges hatten sich lange Gräser und verschlungene Pflanzen zu einem dichten grünen Teppich verwoben, aus dem der nackte, abgestorbene Ast einer Kiefer ragte. Er sah aus wie ein säuberlich abgenagtes Gerippe und schlug in regelmäßigem Rhythmus gegen den rechten Holzpfeiler. Irgendetwas musste dort unten sein, das ihn in Bewegung hielt, obwohl der Lake Mirror regungslos vor ihnen lag. Keine einzige Welle war zu sehen, kein Windhauch kräuselte das Wasser und dennoch bewegte sich der Ast in dem grünen Sumpf unter den Holzbohlen in regelmäßigem Rhythmus. Julia schloss die Augen und begriff für den Bruchteil einer Sekunde, wie sich Robert fühlen musste, wenn er eine seiner – wie hatte Mum es genannt – Visionen hatte.
Und dann war der Moment vorbei.
»Du hast recht, der Lake Mirror ist tot. Hier gibt es keine Fische.«
Julia erkannte Chris’ Stimme sofort und schreckte zusammen. Langsam hatte sie das Gefühl, er verfolgte sie. Sie wandte sich nicht um.
»Hast du den Beweis dafür?«, fragte Robert, plötzlich misstrauisch.
»Nein. Ich weiß es eben.«
»Aber David sagt …«
»David hat keine Ahnung.«
»Ich gehe zurück«, sagte Julia schnell, und ohne Chris anzusehen, kehrte sie zum Bootshaus zurück. Chris folgte ihr. Aus lauter Nervosität wurde sie immer schneller. Am Ende des Stegs jedoch blieb sie abrupt stehen, fuhr herum und sagte: »Sag mal, verfolgst du mich eigentlich?«
»Hättest du das denn gerne?« Fragend hob er die Augenbrauen.
Wer war er und was wollte er von ihr?
»Ich möchte einfach nur, dass du mich in Ruhe lässt, okay?«
»Habe ich dir irgendwas getan?« Er hob die Hände.
Die Antwort lag ihr auf der Zunge. Sie wollte ihm sagen, dass er sie verunsicherte, nervös machte, aber … genau das beabsichtigte er vielleicht.
»Nein«, murmelte sie.
»Ich könnte dir nie etwas tun, Julia«, erwiderte er. Mann, diese verfluchten hellen grauen Augen. Sie waren wie diese Landschaften, die man in Schneekugeln gefangen hält. In denen eine ganze Welt hinter Glas liegt, ein Kaleidoskop von Möglichkeiten. Und Julia wusste sich keinen anderen Rat, als vor dieser Welt zu flüchten, die sich bewegt, wenn man sie erschüttert.
*
David war ihre Rettung. Inzwischen konnte sie gar nicht verstehen, dass sie am Anfang von seinem Good-Guy-Gehabe genervt gewesen war. Von ihm ging keine Gefahr aus, das fühlte Julia instinktiv. Sie fand ihn auf einem der uralten, verschlissenen Sofas neben dem Bootshaus.
»Wo ist Rose?«, fragte sie, um sich zu beruhigen.
Er deutete auf die Tanzfläche.
Rose und Benjamin tanzten eng umschlungen. Sie bildeten ein verrücktes Tanzpaar. Nicht nur, weil die kahl geschorene Rose Benjamin um zwei Köpfe überragte, sondern weil ihre graziösen Bewegungen einen krassen Gegensatz zu seinen Hip-Hop-Sprüngen bildeten. Im nächsten Moment beugte er sich nach vorne, flüsterte Rose etwas zu und sie brachen in Lachen aus.
»Komm, setz dich zu mir.«
Julia ließ sich neben David aufs Sofa fallen, das fast bis zum Boden durchhing. Der rot-schwarz melierte Stoff hatte sich an einigen Stellen bereits gelöst und Schaumstoff quoll hervor. Es roch muffig und verschimmelt.
David lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und fragte zögernd: »Warum bist du hier?«
»Ich … warum ich hier bin?«
»Ja.«
»Die Party wurde für uns …«
»Das meine ich nicht.«
»Was dann?«
»Warum bist du auf diesem College?«
Bitte nicht fragen, dachte Julia, dann muss ich nicht lügen.
»Das College … es hat einen guten Ruf, oder? Von wegen Hochbegabte, Kaderschmiede und so weiter.«
David öffnete die Augen, legte den Kopf zur Seite und sah sie nachdenklich an.
»Haben deine Eltern dich geschickt?«, fragte er.
»Meine Eltern?«
»Ja, deine
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