Das Spiel
Tom: »Vergessen du musst, was früher du gelernt.« Julia lief ein kalter Schauer über den Rücken.
»Was ist?«, fragte David. »Frierst du?«
Sie schüttelte den Kopf und klatschte wie der Rest der Studenten Beifall, als Tom sich auf der Tonne verbeugte und nun in eine andere Rolle schlüpfte. Seine Stimme wechselte von dem geheimnisvollen Ton Yodas zu einem heiseren, fast schleichenden Tonfall.
»Die meisten Serienmörder behalten eine Art Trophäe von ihren Opfern. – Tat ich nie.«
Pause.
Die Menge ging dazu über, gespieltes Entsetzen zu äußern.
»Nein, nein. Sie haben Ihre gegessen.«
Irgendjemand rief: »Das Schweigen der Lämmer!« Rose amüsierte sich köstlich. »Hannibal Lecter.«
»Zehn Dollar für die junge Lady mit der extravaganten Frisur!«, rief Tom und fuhr fort. »Was tut er, dieser Mann, den Sie suchen?«
»Tötet Frauen!«
Es war Chris, der die Antwort rief.
Noch bevor der Applaus losbrach, ertönte ein Schrei.
Laut und verzweifelt hallte er über den See.
Julia gefror das Blut in den Adern.
Nein, bitte nicht, dachte sie, nicht schon wieder!
Kapitel 10
Für maximal eine Sekunde herrschte Stille. Ein Schweigen der Verwirrung, in der jeder dem Schrei lauschte, der lange währte, den die Berge immer wieder als Echo wiedergaben. Nicht einmal das heisere Bellen der Dogge konnte ihn übertönen. Dann wurden aufgeregte Stimmen laut, einige Mädchen kreischten hysterisch, und Julia spürte, wie aus der Aufregung Panik wurde. Sie sah, wie Tom von der Tonne sprang und zum Bootssteg rannte. Ein Großteil der Studenten tat es ihm nach.
Unter den zahlreichen Füßen dröhnten die Holzbohlen laut, das Geländer schwankte gefährlich, und Julia fürchtete, der Holzsteg würde in der nächsten Sekunde unter ihnen allen zusammenbrechen. Doch wie durch ein Wunder hielt er der Menschenmenge stand, die am Ende des Stegs angekommen war und hinaus auf den See starrte, der im Licht der Dämmerung sich türkisfarben verfärbte. Ein kräftiger Wind war aufgekommen.
»Da ist was passiert!« Auch David sprang auf und folgte der Menge.
Julia blieb sitzen. Sie schloss einfach die Augen und rührte sich nicht. Sie lauschte der Angst, die über ihrem Kopf kreiste wie die Raubvögel am ersten Abend, als Alex sie hier hoch in das abgeschiedene Tal gebracht hatte.
Wo, fragte sich Julia, waren die Vögel geblieben? Sie hatte danach nie wieder einen gesehen. Nie wieder. Nie wieder gesehen.
Dann dachte sie an Fische.
Sie sah ihre toten Augen vor sich. Sie stellte sich den See vor, wie er überquoll von ihren leblosen kalten Fischkörpern.
Der See ist tot, hörte sie Robert sagen.
Hatte da nicht so etwas wie Sehnsucht mitgeschwungen?
Ein Rufen, ein Schreien drang an ihr Ohr. Nein, es hatte nichts mit ihr zu tun. Sonst hätten die Stimmen ihren Namen gerufen, oder?
Julia schmiegte sich noch tiefer in das Sofa. Sie spürte die kaputten Federn der Sitzlehne in ihrem Rücken und sah in ihre eigene Dunkelheit.
Seit seiner Kindheit war Robert auf dem schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Fantasie balanciert. Immer in Gefahr, abzurutschen. Ständig fürchtete Mum, er könnte endgültig hinüberwechseln in eine eigene Welt, in der sein Verstand nur noch von Fantasien und Visionen beherrscht wurde. Ehrlich gesagt hatte Julia nie an diese Nulllinie geglaubt. Es war nur eine Geschichte, die ihre Mutter sich als Entschuldigung ausgedacht hatte, wenn ihr Liebling wieder einmal in die unbekannten Sphären seines Gehirns abdriftete, wo keine Kontrolle mehr möglich war.
Sie hatte ihrer Mutter nicht geglaubt. Und nicht nur einmal war das ein Fehler gewesen.
»Julia!« Plötzlich kniete jemand vor ihr. Sie sah auf. Es war Chris.
»Julia, hörst du mich? Warum sitzt du hier einfach herum? Robert ist ins Wasser gesprungen! Julia, du musst uns helfen! Kann Robert gut schwimmen? Wird er genügend Kraft haben?«
Langsam, ganz langsam sickerten die Worte in ihr Bewusstsein. Mühsam versuchte sie, in die Gegenwart zurückzukehren. Robert war kein schlechter Schwimmer, doch die Wettkämpfe, zu denen Dad ihn in der Vergangenheit immer wieder herausgefordert hatte, hatte er auf den Tod gehasst. Aber warum wollte Chris das wissen?
»Er ist … er hasst … Wasser!« Jetzt spürte sie, wie ein Zittern nach und nach ihren ganzen Körper erfasste.
»Ich glaube, er schwimmt in Richtung Green Eye«, hörte sie irgendwo eine Mädchenstimme rufen.
»Green Eye?«, fragte jemand zurück.
»Das ist die Stelle unterhalb des
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