Das Spiel
Spielverderberin!« Debbie hatte die Tanzfläche verlassen und war völlig außer Atem. »Lass uns’ feiern! Wir sind jetzt am College, sind endlich erwachsen und haben uns endgültig von dem Joch unserer Eltern befreit.«
Ja, ja, ja. Debbie hatte recht. Die Welt hatte neue Gesetze. Julia dachte an ihren Entschluss von vorhin, sich heute zu amüsieren. Und egal, was hinter der Sache mit der Einladung steckte – sie beschloss, es erst einmal beiseitezuschieben. Morgen war auch noch ein Tag. Genug Zeit, sich über Loa.loa Gedanken zu machen.
»Also gut«, sagte sie lachend.
Wenige Minuten später war David zurück und reichte ihnen beiden einen bis zum Rand gefüllten Plastikbecher. »Trinken wir auf unser neues Leben!« Er prostete ihnen zu.
»Auf unser neues Leben«, wiederholte Julia und nahm den ersten Schluck. Der Alkohol stieg ihr sofort in den Kopf. Um einiges gelöster sah sie sich um und erkannte in den anderen Gesichtern dasselbe Gefühl: die Hoffnung, angekommen zu sein. Sie nahm einen weiteren Schluck, und wow – plötzlich sah sie überall nur fröhliche Mienen.
Unwillkürlich ging ihr Blick Richtung Bootssteg, wo sich Roberts rotes Sweatshirt gegen das Grau der Wasseroberfläche abhob. »Ich glaube, ich gehe kurz mal zu Robert«, sagte Julia und ließ David und Debbie stehen.
*
Der Holzsteg schwankte unter ihren Füßen, als sie ihn betrat. Oder war es bereits der Alkohol? Abrupt blieb sie stehen, hielt sich am Geländer fest, um es sofort wieder loszulassen. Es hing derart schief, dass sie fürchtete, es könnte sie mit ins Wasser ziehen. Der Lake Mirror war völlig von Bergen eingeschlossen und dahinter erhoben sich die schneebedeckten Gipfel der Dreitausender. Von dieser Stelle aus war das College nicht zu sehen, da eine Gruppe von Nadelbäumen die Sicht verdeckte. Dafür konnte Julia die Brücke erkennen, über die sie den Wasserfall überquert hatten.
In der anderen Richtung war das Ufer deutlich rauer und wilder. Hohe Klippen fielen direkt zum Wasser hin ab und circa einhundert oder zweihundert Meter entfernt ragte eine steile Felskante weit in den See hinein. Danach schienen die Berge weiter an Höhe zuzunehmen, um irgendwo am Horizont in die Gipfel des Ghosts zu münden.
Was, wenn hinter diesen Gipfeln nichts wäre?
Wenn die Welt genau hier endete?
Wenn dieses Tal völlig für sich allein existierte?
Wenn alle Tage sich so anfühlten wie dieser Moment?
Vielleicht, schoss es ihr durch den Kopf, könnte ich dann das Leben hier ertragen.
Sie ging weiter. Bei Robert angekommen, setzte sie sich neben ihn. Ike schaute sie kurz aus seinen braunen Augen an und schlief dann weiter. Nun wusste Julia auch, was Robert vom Lesen abhielt. Eine riesige Angel ragte weit in den See hinein.
»Wo hast du die denn her?«
»Von David. Meinst du, ich kann mir auch eine kaufen?«
»Bestimmt. Kann man heute nicht alles übers Internet bestellen?«
»Wie viel Uhr ist es?«
Julia schaute auf ihre Armbanduhr. »Viertel nach acht.«
»David sagt, am Abend beißen die Fische am besten.« Er lachte. »Wenn ich etwas fange, dann taue ich die armen Tiere erst einmal auf. Das Wasser ist eisig kalt. Aber ich denke, ich werde nichts fangen.« Er blickte sie ernsthaft durch seine runde Brille an. »Der See ist tot.«
»Ach Unsinn«, wiegelte sie ab. »In jedem Gewässer gibt es Lebewesen. Und die hier fahren vielleicht total ab auf Kälte.«
Sie kniete sich hin und hielt prüfend die Hand ins Wasser. Erschrocken zuckte sie zurück. Robert hatte recht! Im Gegensatz zu der schwülwarmen Luft draußen fühlte sich der See an, als würde man in einen Haufen von Eiswürfeln greifen.
Noch hatte die Dämmerung nicht eingesetzt, doch die Sonne war bereits hinter den Hügeln an der Collegeseite verschwunden. Stattdessen türmte sich eine große gelblich schimmernde Wolke über dem Lake Mirror.
Julia dachte an einen anderen See aus ihrer Vergangenheit. Wie oft war sie mit Kristian zum Baggersee gefahren, um zu schwimmen. Vorwiegend am Abend um dieselbe Uhrzeit wie jetzt. Wenn die Familien den Grill und die Bierflaschen einpackten und endlich mit ihren Bratwürsten und lärmenden Kids nach Hause aufbrachen, erklärten die Jugendlichen den See zu ihrem Gebiet. Dann gab es ein Lagerfeuer, sie machten Musik und schwammen nackt weit in den See hinaus. Julia lief ein angenehmer Schauer über den Rücken. Das Wasser hatte sich weich angefühlt, so weich, als ob es mit der nackten Haut verschmolz.
Und obwohl es fast
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