Das Spiel
antwortete ihr.
»Also Robert, du hast angeblich ein Mädchen in den See springen sehen«, begann Chris.
»Es ist wahr. Sie ist von diesem Felsen gesprungen!«, beharrte Robert auf der Version seiner Geschichte.
Alle starrten Robert an wie einen Außerirdischen. Na ja, im Grunde sah er auch so aus. Die Haut seines Gesichtes war bleich, seine Lippen leuchteten blau und seine Zähne schlugen aufeinander – vor Aufregung, vor Kälte, oder weil er zu Recht fürchtete, niemand würde ihm die Geschichte von dem Mädchen abnehmen.
»Na und, wie sah die schöne Unbekannte aus?«, fragte Debbie. Auf ihren Lippen lag ein spöttisches Lächeln.
»Ich weiß nicht …« Robert stockte.
Julia spürte, dass er genau wusste, wie sie aussah. Das Gedächtnis ihres Bruders war schließlich in einem Fünfsternegehirn untergebracht. Er vergaß nie etwas, wenn er auch manchmal Realität und Fantasie nicht auseinanderhalten konnte.
»Wie Loreley«, murmelte er schließlich.
» Loreley?« Rose zog den Namen in die Länge.
»Er meint so etwas wie eine Meerjungfrau«, erklärte Julia unwillig.
»Meerjungfrau? Also, wow, das ist wirklich strange.« Debbie gesellte sich zu Benjamin aufs Fensterbrett und stieß ihn in die Seite. »Eine Meerjungfrau im Lake Mirror! Wer’s glaubt!« Ihre Panik von vorhin war vergessen, mittlerweile schien sie sich köstlich zu amüsieren.
»Ihre Haare waren blau und sie trug einen grünen Badeanzug«, beharrte Robert weiter auf seiner absurden Geschichte.
»Blaue Haare?« Benjamin verdrehte die Augen.
»Lasst Robert doch einfach mal ausreden.« Plötzlich stand Katie in der Tür. Sie hatte vorhin nur kurz den Kopf durch die Tür gesteckt, Roberts und Davids Zustand ohne Kommentar zur Kenntnis genommen und war dann wieder verschwunden. »Wenn ihr hier schon ein Tribunal veranstaltet, hat der Angeklagte auch das Recht, seine Version in Ruhe zu erzählen.«
»Ja, erzähl uns deine Geschichte noch einmal ganz genau, Robert.« Das kam von David. »Wo hast du das Mädchen gesehen?«
Robert runzelte ungeduldig die Stirn. »Na, auf dem Solomon-Felsen. Dort, wo die Felskante ins Wasser abfällt. Das Mädchen kam aus dem Nichts.« Er schaute in die Runde. »Sie rannte vor bis zur Kante, wo Chris und Alex uns vorhin hochgezogen haben, blieb stehen, vielleicht für ein, zwei Sekunden, vielleicht länger. Und dann hat sie sich in den See gestürzt! Ist einfach gesprungen. Und ist untergegangen! Verschluckt … das Wasser hat sie verschluckt!« Robert sprach abgehackt und keuchend. Das Zittern seines Körpers übertrug sich auf seine Stimme.
Oh Gott, er wird doch nicht anfangen zu weinen, dachte Julia. Schnell ging sie in ihrem Kopf die Möglichkeiten durch. Okay, der Felsen war ziemlich hoch, bestimmt zehn Meter und extrem steil – das hatte sie beim Klettern hinunter zur Plattform am eigenen Leib erfahren. Andererseits – wenn jemand mutig war, würde ein Sprung zumindest nicht außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegen, zumal das Gewitter zu dem Zeitpunkt noch nicht gewütet hatte. Es gab Menschen, die liebten schließlich die Herausforderung. Bungee-Jumping und so. Aber machte das Roberts Geschichte wahrscheinlicher?
»Und als sie dort oben auf dem Solomon-Felsen stand, diese Loreley – hat sie sich etwa die Haare gebürstet?« Debbie sah Robert ungläubig an. »Oder gesungen? Wie diese Sirenen? Hat sie dich durch ihren betörenden Gesang angelockt?«
»Nein!«, widersprach Robert und ignorierte die Ironie in Debbies Stimme. »Sie stand da und im nächsten Moment ist sie gesprungen.«
»Ein Mädchen mit blauen Haaren?«, wiederholte nun auch Chris mit sarkastischer Stimme.
»Ja! Und sie trug einen grünen Badeanzug.« Robert nickte.
Debbie brach in hysterisches Gelächter aus. »Oh Mann, ich sag ja, du bist echt strange«, kicherte sie.
Rose’ Gesicht verzog sich vor Ärger. »Was gibt es da zu lachen?«, fauchte sie. »Robert hat jemandem helfen wollen. Er hat sein Leben riskiert und David auch.«
Chris schüttelte den Kopf. »Was ich nicht verstehe, David – warum bist du nicht am Felsen geblieben, als ihr endlich den Vorsprung erreicht hattet? Das war echt knapp!«
»Ich wollte nach dem Mädchen suchen.«
»Du glaubst mir also!« Robert sah ihn erleichtert an, doch David zögerte. In seinen Augen war Mitleid zu erkennen. »Ich weiß nicht recht, Robert«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Ich bin ziemlich tief getaucht. Aber ich habe keine Spur von ihr gefunden. Und blaue Haare …
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