Das Spiel
sympathisches Gesicht sah todernst aus. »Also, Leute. Ihr müsst euch jetzt entscheiden! Was wollt ihr tun? Wollt ihr jetzt wirklich zum Dekan gehen, Roberts Irrsinn verbreiten und einen Collegeverweis für die Hälfte von uns riskieren, obwohl die Sache längst ein glückliches Ende genommen hat?«
Er fasste einen nach dem anderen ins Auge. Und einer nach dem anderen sah zu Boden und schüttelte den Kopf. Erst Debbie und Benjamin. Dann Chris. Schließlich auch Rose und David. Nur Katie hatte sich irgendwann unbemerkt aus dem Staub gemacht.
Schließlich war nur noch Julia übrig.
Alex fixierte sie mit einem langen auffordernden Blick, dem Julia nichts entgegenzusetzen hatte. Verzweifelt starrte sie nach unten auf den abgenutzten Linoleumboden. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. Und sie wusste genau: Das, was sie hier tat, war Verrat an ihrem Bruder.
Kapitel 13
Erschöpft von den Ereignissen des vorhergehenden Abends, schlug Julia am nächsten Morgen die Augen auf und starrte direkt in eine riesige knallgelbe Sonne. Der Gewitterregen in der Nacht hatte den Himmel von den schwarzen Wolken gereinigt. Nun erstrahlte er in einem Blau, als sei er frisch gestrichen, und kein Dunstschleier ließ mehr die Silhouette der Berggipfel mit dem Horizont verschwimmen. Ganz deutlich konnte man den Gletscher erkennen, der sich hinter den Gipfeln des Ghost ausbreitete, die heute viel näher als sonst wirkten.
Idylle statt Weltuntergang. Als ob das Tal es darauf anlegte, seine zwei Seiten zu zeigen.
Was natürlich Quatsch ist, dachte Julia, denn ein Tal ist nur ein Stück Natur, nichts weiter, ohne Eigenleben. Und nach einem Gewitter folgt immer ein strahlender Morgen.
In der Nacht hatte sie wieder lange wach gelegen und aus den kurzen Phasen, in denen sie eingenickt war, hatten sie die Bilder des vorhergehenden Abends aufgeschreckt. Und in den unendlich langen Stunden, in denen sie einfach nur an die Zimmerdecke starrte, hatte sie das schlechte Gewissen nicht losgelassen.
Oh Gott, sie hatte ihren kleinen Bruder vor allen anderen verleugnet.
Rose streckte den Kopf herein. »Schon wach?«
»Nicht wirklich!«
»Kommst du mit in die Mensa frühstücken?«
»Gleich.«
Doch Rose verließ das Zimmer nicht, sondern setzte sich auf ihr Bett. »Dein Bruder ist ziemlich sensibel, oder?«
»Kann sein.«
Und wieder Mums Worte in ihrem Kopf.
Du wirst schon sehen.
Das war ihr Lieblingsspruch. Du wirst schon sehen! Wenn du erst einmal erwachsen bist und Verantwortung trägst. Na ja, jetzt war es offensichtlich so weit. Julia schloss kurz die Augen. Ich muss etwas unternehmen, dachte sie. Spätestens seit gestern Abend steht Robert hier unter permanenter Beobachtung. Und genau das darf nicht passieren.
»Du musst etwas unternehmen«, fuhr Rose fort, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Du solltest … also, ehrlich … Wäre für Robert nicht so etwas wie eine Therapie sinnvoll? Es gibt hier am Grace einen Psychologen. Mr Hill, Isabels Vater, er soll wirklich gut sein. Man kann einfach zu ihm kommen …«
Julia hörte die Worte, aber sie erfasste den Sinn nicht wirklich.
Als Kind sah es immer so aus, als mache es irre viel Spaß, erwachsen zu sein. Man konnte selbst entscheiden, wann es Hamburger zum Essen gab (jeden zweiten Tag!); wann man etwas Neues zum Anziehen brauchte (ständig!); welchen Film man ansehen durfte (King Kong!) und so weiter.
Erst als Julia sich als Teenager sozusagen in der Zielgeraden zum Erwachsensein befand, ließ sie sich nicht länger blenden: nicht von den schicken Schuhen und nicht davon, dass Erwachsene rauchen durften, bei jeder Gelegenheit Sekt tranken und Tag und Nacht Sex haben konnten, ohne dass irgendjemand sie vor Aids warnte. Mum hatte sich beschwert, als Julia sich weigerte, erwachsen zu werden, darüber redete, die Schule zu schwänzen, und behauptete, ihr ginge alles am Arsch vorbei – dieser ganze Fuck-Erwachsenen-Scheiß!
»Was ist – soll ich mal mit Robert reden?« Rose’ Stimme drang wieder in ihr Bewusstsein.
»Ich kümmere mich schon um meinen Bruder«, murmelte Julia. Und dachte erleichtert an den nächsten Tag. Ja, sie würde sich um Robert kümmern, das hatte sie immer getan.
Morgen war es so weit. Morgen fuhr endlich der Bus hinunter nach Fields.
*
Eine große Tasse Tee mit Milch und ein Joghurt – das war alles, was Julia auf ihr Tablett stellte.
In der Mensa herrschte um diese Uhrzeit Hochbetrieb. Vor dem Büfett drängten sich die Studenten. Einige von ihnen,
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