Das Spiel
liegen«, sagte David und grinste schon wieder. »Erst geht die Welt unter und dann strahlender Sonnenschein.« Er setzte sich in Bewegung. »Komm, wir müssen uns beeilen. Sonst kommen wir zu spät ins Seminar.«
Julia zögerte. »Sag mal, David …«
»Was?«
»Was hältst du wirklich von Roberts Geschichte?«
»Du meinst das Mädchen?«
Sie nickte.
»Warum willst du das wissen?«
»Warum? Weil …«
»Geht es dir dabei eher um das Mädchen oder um Robert?«
»Um Robert.« Julia wunderte sich selbst, wie schnell die Antwort aus ihrem Mund kam.
David schüttelte den Kopf. Sein Blick verdunkelte sich. »Wenn es dir wirklich um Robert ginge, dann würdest du zu ihm halten. Dafür sind Geschwister schließlich da. Man geht durch dick und dünn. Und wenn man nicht zuhört, kann es sein, dass es irgendwann zu spät ist.«
*
Julia kam als Letzte in den Seminarraum im Erdgeschoss des Hauptflügels. Doch Professor Brandon war noch nicht erschienen. Sie ging an den Sitzreihen vorbei nach oben und schob sich in die letzte Reihe, wo sie einen guten Überblick hatte. Das Philosophieseminar war ein Pflichtkurs für alle Studenten des ersten Jahres und dementsprechend gut besucht. Die Studenten verteilten sich auf den Sitzreihen, die nach hinten anstiegen. Sie sah Robert zwischen David und Rose in der dritten Reihe. Er saß tief über eines seiner Bücher gebeugt und schien die Umwelt gar nicht wahrzunehmen, ebenso wenig wie die neugierigen Blicke, die ihn trafen.
»Hi.« Katie schob sich neben sie. »Debbie rastet mal wieder aus. Irgendwie scheint die Sache von gestern Abend doch durchgesickert zu sein und sie rennt nun überall herum und erzählt, dass sie nur ganz kurz auf der Party war.«
Julia reckte den Kopf. Debbie war die Einzige, die in der ersten Reihe Platz genommen hatte. Offensichtlich, damit sie jeden Neuankömmling aufhalten konnte, um Gerüchte auszutauschen.
»Ich war im Grund genommen die ganze Zeit hier«, tönte ihre schrille Stimme zu ihnen herauf. »Niemand …«
Julia musste trotz ihrer Sorgen lachen. »Debbie wird das College nie überleben. Wenn ihre Gehirnzellen jetzt schon heisslaufen! Jeden Moment wird sie Feuer fangen und wir müssen aus Sicherheitsgründen den Saal räumen und können auf dem Campus draußen sitzen.«
»Keine schlechte Idee. Ich kann diesen Philosophiecop sowieso nicht ausstehen. Nie im Leben hätte ich diesen Kurs besucht, aber man wird ja dazu gezwungen.«
»Was hast du denn gegen Brandon?«
»Er kommt sich besonders schlau vor.« Katie legte den Kopf zur Seite.
Wie ein exotischer Vogel, dachte Julia und dann: einer, der in Gefangenschaft lebt.
»Mein Gott«, Katie ließ Debbie nicht aus den Augen, »merkt die eigentlich nicht, wie peinlich sie sich aufführt? Gibt es kein Gesetz, das Leuten wie ihr verbietet, den Mund aufzumachen?«
In diesem Moment brach sie ab, denn die Tür öffnete sich und Professor Brandon trat herein. Der Philosophiedozent war in den Vierzigern und sah eher unscheinbar aus. Er hatte die Hände in den ausgebeulten Taschen des Jacketts vergraben. Seine Krawatte hing schief und er trug nichts bei sich. Keine Bücher, keine Tasche, keine Zettel. Nicht einmal ein Kugelschreiber steckte in der Brusttasche.
Ike lief mit seinen elegant schlaksigen Bewegungen hinter ihm her und legte sich ganz selbstverständlich neben das Pult, an das sein Besitzer nun trat, um den Saal für mehrere Minuten stillschweigend zu mustern.
Schließlich räusperte sich Brandon und mit einer selbstsicheren Handbewegung drehte er das Mikrofon am Pult zur Seite. Er hatte eine außergewöhnlich tiefe und beeindruckende Stimme. Wenn er zu sprechen begann, hoben die Studenten augenblicklich den Kopf, um zuzuhören. Und das war nicht alles. Brandon war auch rhetorisch so beeindruckend gut, dass man den Eindruck hatte, er lese aus einem Buch vor und spräche nicht frei.
»Philosophie«, sagte er und lächelte, »bedeutet im Griechischen Liebe zur Weisheit. Vielleicht sollten wir heute aber lieber mit der Liebe zur Wahrheit anfangen, was meinen Sie?« Er trat vor das Pult, lehnte sich lässig dagegen und verschränkte die Arme. Noch immer lag dieses Lächeln auf seinem Gesicht. »Es geht das Gerücht, es hätte eine illegale Party stattgefunden. Am Bootshaus. Falls es Ihnen entfallen sein sollte, das Bootshaus …«, dozierte er und begann nun vorne auf und ab zu gehen, die Hände wieder in den Hosentaschen, »… befindet sich im Sperrbezirk, also in dem Bereich des
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