Das Spiel
Sie mir einfach nur der Reihe nach, was gestern passiert ist.«
Wer, fragte sich Julia, wer hatte nicht die Klappe halten können? Es konnte jeder gewesen sein. Selbst wenn Alex versucht hatte, all diejenigen auf den Ehrenkodex einzuschwören, die auf der Party gewesen waren – es waren vermutlich einfach zu viele gewesen.
»Mr Walden«, Robert schüttelte entschieden den Kopf, »ich fürchte, Sie sind falsch informiert worden.«
»So? Hat man mir etwa Lügen erzählt?« Mr Walden runzelte die Stirn und auch Julia sah irritiert hoch. Was sollte das denn nun schon wieder?
Roberts Stimme wurde leise. »Dieses Mädchen, sie ist nicht in den See gefallen. Sie ist gesprungen! Freiwillig!«
»Freiwillig gesprungen?« Mr Walden beugte sich nach vorne. »Wollen Sie damit sagen, sie hat das absichtlich gemacht?« Er wirkte verwirrt und daher noch kleiner hinter dem riesigen Schreibtisch aus dunklem Holz.
»Ja, Sir, das will ich sagen«, erwiderte Robert bestimmt.
Mr Waldens rechte Hand strich über seine nicht vorhandene Frisur. An seinem rechten Finger schnitt sein Ehering tief in die Haut. Julia schoss durch den Kopf, dass er sich so nie würde scheiden lassen können, und der Gedanke war so absurd, dass sie sich auf die Zunge beißen musste, um nicht laut zu lachen. Ihre Nerven waren nicht wie Drahtseile, sie waren so brüchig wie Papier.
Nun legte der Direktor die Hände gegeneinander. »Bitte, berichten Sie genau, was passiert ist.«
Robert holte tief Luft. »Ich saß auf dem Steg am Bootshaus und habe geangelt. Die ganze Zeit habe ich auf das Wasser gestarrt und gewartet, dass ein Fisch auftaucht. Ich hatte den Felsen also ständig im Auge.«
»Welchen Felsen?«
»Den Solomon-Felsen. Heißt der Felsen wirklich so, Sir? Ich habe in der Bibliothek und im Netz nach einer Karte von der Gegend hier gesucht, aber keine gefunden.«
»Der Felsen hat keinen Namen«, erwiderte Mr Walden hastig. »Sie saßen also auf dem Steg?«
»Richtig! Das Bootshaus ist ja gar nicht so weit von dem Felsüberhang entfernt. Hundertfünfzig, zweihundert Meter vielleicht.«
Mr Walden seufzte. »Und dann?«
»Plötzlich stand das Mädchen vorne an der Felskante, also an der Stelle, die wie ein Schiffsbug zuläuft und völlig kahl ist.«
»Plötzlich?«
»Es dämmerte schon und es war ziemlich bewölkt. Ich wusste, dass ein Gewitter kommen würde. Das Mädchen tauchte auf wie aus dem Nichts.«
»Wie lange stand sie auf dem Felsen?«
»Nicht lange, eine Sekunde oder zwei?«
»Aber Sie haben sie trotzdem gesehen?« Der Direktor klang ungläubig.
Julia konnte es ihm nicht verübeln. Doch Robert ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.
»In dem Moment, als ich sie sah, ist sie schon gesprungen. Und dann bewegte sie sich für einen kurzen Moment im Wasser, bevor … etwas sie nach unten zog.«
Julia starrte ihn an. Dieses Detail hatte er bisher noch nicht erwähnt.
Mr Walden stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und beugte sich nach vorne. »Etwas zog sie nach unten?«
Robert fuhr sich mit der Hand über die Augen. Plötzlich sah er müde und völlig erschöpft aus. »Chris Bishop hat mir heute früh erzählt, dass die Stelle vor dem Felsen die tiefste Stelle im See ist. Er hat sie Green Eye genannt. Von unserem Balkon aus sieht sie tatsächlich wie ein Auge aus. Wenn Sie mir eine Karte geben, könnte ich Ihnen zeigen, was ich meine.«
Der Dean schüttelte den Kopf. »Dieses Mädchen – sie stand also da. Und dann ist sie gesprungen«, wiederholte er. Lag auf seinem Gesicht ein Ausdruck von Unzufriedenheit oder Ungläubigkeit? Oder beides?
»Ja, und ich dachte erst, es sei Absicht. Sie wirkte, als sei sie eine gute Schwimmerin, warum sonst sollte sie ins Wasser gesprungen sein? Immerhin sind es über zehn Meter, denke ich mal. Ich habe die Stelle nicht aus den Augen gelassen. Aber sie kam nicht wieder an die Oberfläche.«
»Und das soll ich glauben?« Mr Walden legte die Stirn in Falten.
»Es ist die Wahrheit!«
Der Direktor erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und legte die linke Hand auf Roberts Schulter. Er ließ sie einige Sekunden dort liegen, bevor er meinte: »Mir wäre es lieber, Sie hätten einen Grund zu lügen.«
Davids Worte kamen Julia in den Sinn.
Wenn es dir wirklich um Robert ginge, dann würdest du zu ihm halten. Dafür sind Geschwister schließlich da.
Sie hatte Robert gestern im Stich gelassen, heute würde sie zu ihm stehen. Sie vergaß alle Vorsicht und funkelte den Dean an. »Und
Weitere Kostenlose Bücher