Das Spiel
sie. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was er gerade vor sich auf dem Bildschirm hatte.
Plötzlich wandte er den Kopf. »Ist was?«, fragte er.
»Nein.« Julia spürte, wie sie rot wurde. »Äh, ich wollte nur sehen, was du so machst.«
»Ich spiele«, erwiderte er knapp.
»Was denn?« Julia erhob sich und beugte sich über ihn. Der Geruch nach Tabak stieg in ihre Nase. Er erinnerte sie an ihren Dad, wenn er in seinem Arbeitszimmer saß und Pfeife rauchte.
Doch Chris hatte das Bild schon weggeklickt. Stattdessen erschien nun die Homepage der Collegezeitung Grace Chronicle auf dem Bildschirm. Chefredakteurin des Grace Chronicle spurlos verschwunden, lautete die Headline.
Gestern noch hatte Julia sich bei Angela für die Mitarbeit bei der Collegezeitung beworben.
»Wow, die sind schnell.« Sie schüttelte den Kopf.
»Ja, es gibt hier Leute, die alles etwas eher erfahren als andere.«
»Was meinst du damit?«
Chris zuckte mit den Achseln. »Nur so.«
»He, was flüstert ihr denn da?«, rief Debbie und zog den Deckel eines XXL-Joghurtbechers auf. Einige Studenten hoben den Kopf und schauten missbilligend zu ihr hinüber.
»Stell dir vor, wir haben Geheimnisse, die du nicht erfahren sollst«, erwiderte Chris.
»Ich liebe Geheimnisse!«
»Ach ja, das ist ja etwas völlig Neues«, konterte Katie, die mit dem Rücken zu ihnen saß.
Julia hätte zu gerne gewusst, was in Katies Kopf vorging. Was dachte ein Mensch, der so gut wie nicht ansprechbar war? Keinen Blickkontakt suchte? Im Grunde auf äußere Reize nicht reagierte? Und ein Lächeln in ihrem Gesicht war so selten wie eine globale Sonnenfinsternis.
Dafür war Benjamin das genaue Gegenteil. Er stürmte in dieser Sekunde so energiegeladen in den Computerraum, dass Julia eine hochgradige Hyperaktivität diagnostizierte. »Noch irgendwo ein PC frei? Ich muss dringend einen meiner Filme bearbeiten.«
»Sag mal«, meinte Rose, »du denkst wohl nur an Filme. Für dich ist das ganze Leben ein Drehbuch.«
»Ja, denn ich lehne die Realität entschieden ab«, grinste Benjamin.
Debbie löffelte noch immer diesen ekelhaften pinken Joghurt mit Erdbeergeschmack aus dem Becher. »Apropos Drehbuch. Wusstet ihr, dass die Cops Angelas Mitbewohner befragen? Was meint ihr, läuft das jetzt so ab wie in einem Thriller? Nur mit echten Cops?« Ihre Augen blitzten vor Aufregung. »Vielleicht hat Angelas Verschwinden damit zu tun, dass sie ständig Post bekommt. Alleine heute waren sechs große Umschläge für sie dabei. Ich meine, in Zeiten von E-Mail – wer bekommt denn da noch Post? Das allein ist verdächtig, wenn ihr mich fragt. Vielleicht sollte ich das der Polizei melden.«
Rose stöhnte. »Gott, mir stehen die News aus deinem Klatschgehirn bis hier! Und ist dir einmal der Gedanke gekommen, dass die arme Angela einen Unfall auf dem Gelände gehabt haben könnte und jetzt irgendwo hilflos liegt, während du deine aberwitzigen Theorien verbreitest?«
Julia, die inzwischen wieder vor ihrem Bildschirm Platz genommen hatte, spürte, wie Chris sie beobachtete, und als sie den Kopf wandte, lag auf seinem Gesicht ein nachdenklicher Ausdruck.
»Was?«, wollte sie gerade fragen, als er unvermutet lächelte. »Kennst du das Gefühl, dass die Gegenwart so absurd ist, dass man die Vergangenheit plötzlich mit ganz anderen Augen betrachtet?«, flüsterte er so leise, dass nur sie es verstehen konnte.
Julia stockte der Atem.
Was war bloß mit diesem Typen? Was meinte er denn jetzt schon wieder? Was wusste er von ihr? War er vielleicht Loa.loa?
Sie erinnerte sich, wie er sie gestern am Bootshaus aus ihrer Erstarrung gerissen hatte. Sie fühlte wieder seine Hand, seine eindringlichen Worte und sein Versprechen, Robert zu helfen. Er hatte so ehrlich geklungen.
Aber dann diese Anspielungen, diese Sätze, aus denen sie nicht schlau wurde, so wie jetzt. Abgesehen davon, dass er sie heute Morgen auf dem Flur völlig ignoriert hatte.
Was, wenn sich seine Persönlichkeit aus zwei verschiedenen Charakteren zusammensetzte? Fast kam es ihr so vor.
»Meine Theorien sind nicht aberwitzig!«, quietschte Debbie neben ihr auf.
»Könnt ihr vielleicht mal die Klappe halten?« Irgendwo hinter einer der Stellwände im rückwärtigen Teil des CDs erklang Alex’ Stimme. Julia hatte nicht bemerkt, dass er im Raum war.
Debbie verlegte sich auf ein theatralisches Flüstern. »Ihr dürft nicht vergessen, dass Angela Chefredakteurin des Grace Chronicle war. Journalisten leben
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