Das Spiel
nicht springen. Sie kann nicht auf der Party gewesen sein, geschweige denn auf dem Solomon-Felsen. Aber sie ist verschwunden. Das ist ein klassischer Widerspruch, oder?«
Keiner rührte sich.
»Mein Fehler war, dass ich mich darin verrannt habe, dass die Mädchen ein und dasselbe sind. Was Unsinn ist.« Aus Roberts Stimme war so etwas wie ein Triumphgefühl zu hören. »Es muss sich um zwei Mädchen handeln oder besser zwei Akteurinnen in einem Spiel.«
Alle schauten ihn irritiert an.
»Noch nie etwas von der Spieltheorie der Mathematik gehört?«
»Nein«, erklärte Chris ungeduldig. »Sag einfach, worauf du hinauswillst.«
»Das Mädchen im Rollstuhl existiert wirklich. Man könnte sie, mathematisch gesprochen, als Konstante bezeichnen. Ein fester Wert, versteht ihr. Wohingegen es sich bei dem Mädchen auf dem Felsen …«
» Loreley?« ,warf Debbie spöttisch ein.
»Ja, vielleicht sollten wir sie so nennen. Jedenfalls ist Loreley – die Variable in dieser ungelösten Gleichung.«
»Kapier ich nicht«, murmelte Debbie.
Langsam, dachte Julia, tendiert sie gegen null, um ebenfalls mathematisch zu sprechen, und plötzlich fühlte sie so etwas wie Stolz auf ihren Bruder, der sich nicht aus dem Konzept bringen ließ.
»Variablen sind Platzhalter«, erklärte Robert geduldig. »Man kann alles Mögliche dafür einsetzen. Loreley existiert nicht wirklich, ihr habt recht. Aber jeder kann Loreley gewesen sein.«
»Jeder?«, fragte Rose stirnrunzelnd.
»Bis auf Angela. Denn sie saß im Rollstuhl.« Er blickte in die Runde. »Als ich euch meine Geschichte erzählt habe, was hat euch am meisten gestört? Warum habt ihr geglaubt, ich erzähle Unsinn?«
»Na ja, die blauen Haare, der grüne Badeanzug …« Benjamin zog die Brauen in die Höhen.
Robert lächelte. »Ja, eben! Die blauen Haare! Erinnert ihr euch daran, dass auf der Party ständig jemand nach Arielle rief? Arielle, die Meerjungfrau. Arielle und Loreley sind identisch, versteht ihr? Und einige der älteren Studenten wissen das auch.«
Er hat recht, dachte Julia. Natürlich, er hat recht! Die ganze Party – das Gerede vorher über Geheimnisse und Mutproben. Jemand hatte das geplant.
»He, Mann«, sagte Benjamin skeptisch. »Aber warum habe ich das Mädchen dann nicht gesehen? Ich stand die ganze Zeit neben dir. Mit der Kamera.«
Robert schaute ihn an: »Dann zeig doch mal das Video.«
Benjamin schaltete die Kamera an und spulte zu der Stelle, an der sie alle noch nicht geahnt hatten, was passieren würde. Sie beugten sich über das Display. Die Kamera zeigte den Bootssteg und Robert, der auf den See hinausstarrte, genauer gesagt auf die Angel im Wasser. Zwei Studentinnen saßen rechts von ihm. Julia erkannte eine von ihnen wieder. Sie war wie sie Freshmen und in ihrem Mathematikkurs. Die andere schien älter zu sein. Die beiden hatten Robert den Rücken zugewandt.
Dann schwenkte die Kamera Richtung Bootshaus. Für eine Sekunde sah Julia sich neben David auf dem Sofa sitzen, den Becher in der Hand. Sie sah richtig entspannt aus. Dann ein Schwenk auf die Tanzfläche, auf der ein totales Gedränge herrschte. Eine ganz normale Party.
»Wo hast du gestanden, Benjamin?«, fragte David.
»Neben den Mädels, in der Mitte des Bootsstegs.«
»Da!«, unterbrach ihn Julias Bruder. »Jetzt geht es gleich los.«
Tom stieg auf das Ölfass, um seine Vorführung zu beginnen. Augenblicklich schenkten ihm alle ihre Aufmerksamkeit. Dann flog die Kamera über die Menge hinweg zu Robert und weiter über den See. Links das Green Eye, dann der Ghost, über den sich dunkle Wolken in einer Geschwindigkeit schoben, als würde Benjamin nach vorne spulen. Und dann, ziemlich lange, behielt die Kamera den Pfad im Bild, den sie gekommen waren. Julia konnte deutlich die Felswand erkennen. Da hinter der Böschung lag die Brücke, die über den Wasserfall führte. Und noch etwas fiel ihr auf, das sie jedoch in der Schnelle nicht identifizieren konnte.
Dann wieder ihr Bruder im Bild, der Solomon-Felsen und das Green Eye im Hintergrund zu seiner Linken. Soviel Julia erkennen konnte, war der Felsen leer, niemand stand dort oben, geschweige denn er sprang. Aber es war schwer zu sagen, denn Benjamins Kameraführung war eigenwillig – lange ruhige Phasen wechselten mit Sequenzen ab, in denen die Bilder auf- und abtanzten.
Plötzlich saß Robert nicht mehr, sondern er stand auf dem Steg, starrte nach links auf den Felsrücken und verschwand im Wasser. Das alles passierte innerhalb
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