Das Spiel
weniger Sekunden.
Benjamin ließ Robert mit der Kamera nicht aus den Augen. Sie konnten noch einmal zusehen, wie Robert sich durchs Wasser kämpfte, und die Panik, die Julia an dem Abend durchlebt hatte, stieg wieder in ihr hoch. Dann Schnitt. Jetzt tauchte Julia im Bild auf, wie sie mit Rose vorn am Steg stand. David schob sich durch die Menschenmenge. Noch im Laufen zog er die Schuhe aus. Julia sah, wie er die Hand auf ihre Schulter legte und Robert ins Wasser folgte.
Benjamin schaltete die Kamera aus. »Da war nichts«, sagte er.
»Das Bild war an der Stelle verwackelt«, erklärte Robert. »Ist dir das nicht aufgefallen? Spul noch mal zurück.«
Benjamin tat Robert den Gefallen.
»Auf Stopp hältst du die Kamera an, okay?«, befahl Julias Bruder.
Das Bild begann erneut zu flimmern. Die Wolken. Der Uferweg, über den sie gekommen waren. Der menschenleere Solomon-Felsen mit dem Green Eye davor. In diesem Moment rief Robert »Stopp«.
Und jetzt sah Julia es. An dieser Stelle verrutschte das Bild für einen Moment.
»Kannst du das in Zeitlupe abspielen?«, fragte sie.
»Ja, klar.«
Benjamin schaltete auf Slowmo und nun wurde es für alle deutlich. Für einen Moment wackelte das Bild, es zeigte nicht mehr den Solomon-Felsen, obwohl es im normalen Film so aussah, sondern einen etwas niedrigeren Felsvorsprung zwischen Bootshaus und dem Green Eye. Dann schwenkte die Kamera auf Robert, der aufsprang.
Benjamin pfiff durch die Zähne. »Jetzt erinnere ich mich wieder«, sagte er. »Ich glaube, irgendeine von den beiden Mädchen auf dem Steg hat mich geschubst. Ich weiß noch, wie ich sie angefaucht habe, aber ich dachte nicht, dass ich das Bild verrissen hätte.«
»Damit hätten wir den endgültigen Beweis!«, sagte Robert triumphierend und klappte die Kamera zu. »Das Ganze war ein Spiel!«
»Aber wozu?«
»Die Grundlage eines Spiels im Sinne der Spieltheorie ist immer eine Entscheidungssituation mit mehreren Beteiligten, die sich mit ihren Entscheidungen gegenseitig beeinflussen.«
Von draußen drang ein schriller Laut durch das Fenster. Es klang wie das jämmerliche Jaulen einer Katze.
Julias Blick ging zum Fenster.
Über dem See kreiste ein Raubvogel. Er stieß Laute aus, die wie ein Hilferuf klangen.
Ein Raubvogel. Es war das erste Mal, dass sie im Tal überhaupt ein Tier bemerkte, mal von Ike abgesehen. Erst in diesem Moment wurde ihr diese Tatsache bewusst. Als sei das Tal ausgestorben und die Einzigen, die es am Leben erhielten, waren sie. Sie alle. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken.
»Robert hat recht. Wir haben euch tatsächlich reinlegen wollen. Es war einfach nur ein Spiel.«
Alex stand in der Tür. Er hielt die Hände nach oben. »Es tut mir leid, Leute! Was für eine blöde Idee!«
Kapitel 17
Julia hatte sich auf das Fensterbrett von Roberts Zimmer zurückgezogen, und während sie dem Gespräch zuhörte, beobachtete sie gleichzeitig das Geschehen auf dem Campus. Inzwischen war es bereits später Nachmittag, doch noch immer kreiste draußen ein Hubschrauber. Und überall Uniformen, deren Anblick ihr Angst machte.
Dazu hatte sich die Stille im Tal aufgelöst und an ihre Stelle war hektische Betriebsamkeit getreten. Doch hatte die Ruhe zuvor Julia nervös gemacht, war sie ihr seltsam erschienen, so sehnte sie sich jetzt danach. Denn das Schweigen, das über dem Zimmer, dem Apartment, ja dem ganzen College hing, fühlte sich nicht bedrückend, sondern irgendwie leer an.
»Es war nur ein Spiel«, sagte Alex, holte tief Luft und fuhr mit der Hand nervös durch seine blonden Haare. Unter der Bräune sah er erschöpft aus und plötzlich hatte er kaum noch etwas von seinem Mr Florida-Image an sich. »Und zugegeben, wir haben nicht damit gerechnet, dass das Ganze derart aus dem Ruder laufen könnte.«
»Aber …«
Alex deutete auf Benjamins Kamera. »Würdest du die bitte ausschalten? Dann erzähl ich auch weiter.«
»Warum?«
»Frag nicht so viel, mach es einfach«, knurrte Chris ungeduldig. »Ich will endlich wissen, woran ich bin.«
Benjamin zuckte mit den Schultern, und gleich darauf verstummte das Summen, an das Julia sich bereits gewöhnt hatte.
»Also, komm zur Sache!« Chris stand an die Balkontür gelehnt und verschränkte die Arme.
»Warten wir noch auf Isabel.« In dem Augenblick, als Alex es aussprach, kam Isabel auch schon zur Tür herein.
»Hast du schon …«, fragte sie an Alex gewandt.
»Zeig es ihnen.«
Isabel öffnete ihren Rucksack, zog etwas heraus und
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