Das Spiel
drahtiges Fell.
»Ike!« Robert streichelte die riesige Dogge. Der Hund setzte sich vor ihn und musterte ihn aus seinen treuen Augen. Robert war froh, ihn zu sehen. Hunde konnten nicht lügen. So einfach war das. Menschen waren viel zu kompliziert.
»Was ist, Ike?«, fragte er leise. »Kommst du mit?«
Gemeinsam schlugen sie den Weg nach links ein. Um abzukürzen, überquerte Robert die akkurat geschnittene Grasfläche. Künstliche Natur – nichts anderes war dieser Rasen. Er hätte genauso gut aus Plastik sein können.
Vom Collegeeingang bis zum Ufer waren es circa fünfhundertsechzig Meter. Bis zur Brücke am Ostufer brauchte er ungefähr fünfundzwanzig Minuten. Und jenseits davon lag der Sperrbezirk mit dem Bootshaus.
Ike trabte vor ihm her. Robert folgte ihm, ohne zu zögern. Hinter ihm landete der Hubschrauber, aber Robert achtete nicht darauf. Je weiter er sich vom College entfernte, desto leichter wurde die Luft um ihn herum und er konnte wieder atmen.
Unten am Ufer angelangt, blieb er kurz stehen und betrachtete die Umgebung. Niemand würde vermuten, wozu der See fähig war. Doch Robert hatte es selbst erlebt, hatte gespürt, wie schnell er sich verändert hatte und mit welcher Kraft das Wasser versucht hatte, ihn in die Tiefe zu ziehen. Hätte er es ohne David geschafft?
Die Kraft eines Menschen konnte man nicht berechnen. Sie hing allein davon ab, wie stark der Überlebenswille des Einzelnen war. Nur darauf kam es an.
Manchmal bildete Robert sich ein, er könne parallel denken. Wenn er sich richtig konzentrierte, geschah etwas mit ihm. Es war schwer zu erklären. Vielleicht aber gab es eine logische Erklärung dafür, die man einfach noch nicht gefunden hatte. Vermutlich würde man es eines Tages herausfinden. Die Wissenschaft entdeckte ständig etwas Neues.
Früher hatte er immer gedacht, er sähe Dinge, die gar nicht da waren. Aber inzwischen verglich er diesen Zustand damit, wie wenn man alles vergrößert empfand. Das Unwichtige nahm man nur noch verschwommen wahr, aber das, worauf es ankam, sah man klar und deutlich und in allen Details.
Heute beim Frühstück hatte keine einzige Wolke den strahlenden Himmel bedeckt, doch nun schoben sie sich bereits wieder vereinzelt über den Gletscher.
Mittlerweile hatte Robert das College hinter sich gelassen und auch den asphaltierten Pfad. Er hatte den steilen Weg zum Hochufer erklommen und lief nun parallel zur Felswand, die neben dem Weg aufragte.
Rechts unter ihm lag der See, links die Felsen. Vielleicht noch fünfzehn Minuten und er wäre an der Brücke.
Robert warf einen Blick die Böschung hinunter, während er weiterging. Wieder fühlte er die eisige Kälte, die ihn nach seinem Sprung vom Bootssteg den Atem geraubt hatte. Er war geschwommen. Nicht nur, um dieses Mädchen zu finden, sondern auch, um nicht zu erfrieren.
Es war nicht Angela gewesen. Konnte es nicht sein. Angela konnte sich nicht bewegen. Sie war an den Rollstuhl gefesselt.
Wieder hörte er das Kreischen der Bremsen des Landrovers am Tag ihrer Ankunft. Angelas wütende Stimme drang in sein Gedächtnis. Ihr Gesichtsausdruck bei der Auseinandersetzung mit Benjamin in der Mensa.
Angela Finder.
War sie auf der Party gewesen? Nein, natürlich nicht. Der Weg zum Bootshaus war viel zu steil und unwegsam. Mal abgesehen von dem Zaun. Sie wäre nur so weit gekommen, wie der Asphaltweg ging.
Robert hörte Ike bellen. Es war ein Geräusch, das kaum in sein Bewusstsein drang. Es war nicht anders als das leise Geräusch des Windes, der Staub aufwirbelte. Das Rauschen des Wasserfalls, dem er sich nun näherte. Das Knirschen der Steine unter seinen Schuhen.
Ikes Bellen wurde lauter.
Sei still! Ich kann sonst nicht nachdenken!
Angela wäre nicht bis hierhergekommen. Nicht aus eigener Kraft.
Es sei denn, jemand hatte sie geschoben. Den holprigen Weg hinauf, an den Felsen vorbei. Robert sah sich um. Ja, der Weg war breit genug, wenn auch unwegsam. Aber es müsste gehen.
Robert schüttelte unwillig den Kopf. Falscher Ansatz. Er verrannte sich.
Zwei Mädchen! Beide waren verschwunden. Angela Finder, die tatsächlich existierte, und eines, das nur er gesehen hatte. Nicht identisch! Nicht identisch!
Zwei!
Zwei Mädchen.
Der Wasserfall tauchte vor ihm auf, Robert überquerte die kleine Brücke. Jenseits der Brücke waren sie nach links in den Wald abgebogen, rechts von ihm führte ein steiler Weg die Böschung hinunter zum See. Von hier aus konnte er nicht durch das Wasser sehen, obwohl
Weitere Kostenlose Bücher