Das Spiel
verstärkte ihre Schwimmbewegungen und nach ein paar Zügen konnte sie bereits den Grund erkennen. Keine Pflanzen, keine Fische. Dafür Steine. Das Ganze wirkte verlassen, trist und karg. Sie hatte in Tauchsportforen von Bergseen gelesen, die am Grund einer Wüste ähnelten – das hier schien einer von ihnen zu sein. Zumindest an dieser Stelle.
Julia spürte, wie die Luft langsam knapper wurde. Was hatte sie erwartet? Sie war seit Monaten nicht getaucht und völlig außer Übung. Hastig scannten ihre Augen den Boden ab, während sie gleichzeitig die Sekunden zählte, bis sie wieder nach oben musste.
Eine uralte Plastikflasche.
Ein Stück Plane.
Wo war Katie?
Schon nach oben, um Luft zu holen?
Julia suchte weiter. Irgendetwas musste hier sein! Irgendeine Spur von Angela! Obwohl sie spürte, wie ihre Brust eng wurde und ihr das Atmen immer schwerer fiel, wollte sie nicht aufgeben.
Im nächsten Moment fühlte sie, wie jemand ihren Arm nach oben riss. Julia schüttelte die Hand ab. Sie war hier, um nach der Wahrheit zu suchen! Wollte den Dingen auf den Grund gehen.
Ihre Hände fuhren über die Steine, fassten in die Zwischenräume.
Und dann berührten ihre Finger etwas.
Ein rauer Gegenstand.
Eine Kette?
Sie zog sie heraus. Sie klemmte. Julia ruckte noch einmal daran. Die Kette hing irgendwo fest. Mit aller Kraft zog sie erneut und dann hielt sie den Gegenstand in der Hand, den Angela irgendwann losgelassen hatte. Ohne nachzudenken, ließ sie die Kette in den Ausschnitt ihres Badeanzugs gleiten.
Wieder packte Katie Julia an der Schulter und wieder wehrte Julia sich.
Warum sie sich wehrte?
Julia verstand es selbst nicht. Es war etwas, das sie nicht steuern konnte. Es schien ihr, als habe sie erreicht, was sie wollte. Hier unten musste sie nicht lügen, sie musste nicht täuschen, sie musste nicht in die Gesichter anderer Menschen schauen, die etwas von ihr erwarteten. Als sei die Zeit vorbei, in der sie sich gequält hatte, als könne sie jetzt einfach loslassen.
Vielleicht war es für Angela gar nicht so schlimm gewesen, hier zu sterben?
War Ertrinken im Grunde genommen gar kein so schrecklicher Tod?
Vielleicht war der Tod an sich nicht einmal grausam, wie es hieß, sondern bedeutete genau die Art Frieden, den sie empfand?
Sie fühlte jetzt, wie ihre Glieder an Kraft verloren. Wie ihr Körper schwebte. Sie ließ etwas los, das sie in den letzten Monaten mit aller Macht festgehalten hatte. Etwas, das nie wieder kommen würde.
Ihre Vergangenheit.
Mum.
Dad.
Dann ein Ruck.
Julia fühlte, wie jemand an ihr zerrte. Hörte Rufe. Schreien. Spürte, wie sie nach oben gezogen wurde. Sie wehrte sich nicht, und als sie trotz ihrer geschlossenen Augen das grelle Licht der Sonne blendete, dachte sie, sie hätte alles nur geträumt.
*
Stimmen, die sie anschrien.
»Atme! Verdammt, atme, Julia!«
Jemand zerquetschte Julia den Oberkörper. Ihre Rippen schmerzten, als zerbrächen sie jede für sich.
»Du musst atmen!«
Wozu?
Julias Kopf wurde nach hinten gedrückt, ihr Mund auseinandergeschoben, und dann lagen fremde Lippen auf ihren. Sie fühlten sich hart an, entschieden. Und im nächsten Moment strömte Luft durch ihren Körper und sie schlug die Augen auf, blickte in ein Gesicht, das sich als Davids entpuppte.
Und er sah verdammt wütend aus!
»Spinnst du?«
Stimmen, Gesichter – Julia konnte sie nicht eindeutig zuordnen. »Was sollte das? Vier Minuten! Vier Minuten unter Wasser! Wolltest du dich umbringen?«
Roberts blasses Gesicht und die großen Augen hinter der Brille erschienen in ihrem Blickfeld. Der Ausdruck von Trauer und Entsetzen schockierte Julia und noch etwas.
Er wusste es.
Er wusste, warum sie so lange dort unten geblieben war, warum sie für einen Moment, nur für einen Moment gehofft hatte, sie würde sich auflösen und Ruhe finden am Grund des Sees.
»Es geht mir gut«, stotterte sie. Sie schnappte nach Luft und schaffte es nicht, das Klappern der Zähne zu verhindern, ebenso wenig das Zittern ihres Körpers. »Alles okay, wirklich. Ich hatte kein Problem dort unten. Gar keines.«
In Roberts Blick erkannte sie Misstrauen, aber er schwieg, während David noch immer vor sich hin fluchte. Genauer gesagt verfluchte er »Dieses Scheißtal und diesen verpissten See«, als trüge die Natur Schuld an dem kurzen Moment, in dem Julia mit ihrem Leben gespielt hatte.
»Wie ist es gelaufen?« Debbie schien als Einzige unberührt von den Ereignissen. »Habt ihr da unten etwas
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