Das Spiel
runzelte die Stirn. »Irgendetwas ist diesem Jungen widerfahren. Hinter der Schattengrenze vielleicht.«
Chert lachte, aber es war ganz und gar kein heiteres Lachen. »Um das zu wissen, hätten wir keine Spiegel-Magie gebraucht.«
»Ja, ja, aber da ist mehr, als ich je gedacht hätte. Ihr habt ihn doch gehört. Er hat sich nicht einfach über die Schattengrenze verirrt — er wurde hinübergebracht. Und dort wurde ihm irgendetwas Seltsames angetan, das steht für mich außer Zweifel.«
Chert dachte daran, wie er den Jungen vor einigen Tagen gefunden hatte, zu Füßen des Leuchtenden Mannes liegend, im innersten Zentrum der Funderlingsmysterien, den kleinen Spiegel fest umklammert. Und dann hatte diese furchterregende Elbenfrau Chert ebenjenen Spiegel weggenommen. Was sollte das alles? War
sie
die Königin, der die entsetzten Schreie des Jungen gegolten hatten? Er hatte etwas von einem Loch gesagt, und für Chert war ein Herz mit einem Loch darin durchaus etwas, das auf sie passte.
»Ich verstehe es nicht«, sagte Chaven. »Überhaupt nicht. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich es verstehen muss.«
»Nun gut«, Chert stand auf und verzog das Gesicht, weil seine Knie schmerzten. »Ich habe jetzt dringendere Sorgen, zum Beispiel, wo wir jetzt hingehen und wie wir uns etwas zu essen beschaffen sollen, ohne dass Euch jemand erkennt.«
»Wovon redet Ihr?«, fragte Chaven.
»Davon, dass uns Opalia heute nicht nur nichts zu essen machen wird«, erklärte Chert. »Es dürfte doch offenkundig sein, dass es für uns beide weitaus gesünder ist, nicht hier zu sitzen, wenn sie herauskommt.«
»Ah, ja«, sagte der Hofarzt und leerte hastig seinen Becher. »Ich verstehe, was Ihr meint. Lasst uns gehen.«
16
Feuer in der Nacht
Bleiche Tochter erzählte ihrem Vater Donner, sie habe einen edlen Reiter gesehen, mit einer hell schimmernden Rüstung und Haaren wie Mondlicht auf Schnee, und jetzt schlage ihr Herz für ihn. Donner wusste, dass es sein Halbbruder Silberglanz war, eines von Brises Kindern, und verbot ihr, das Haus zu verlassen. Die Musik zwischen Vater und Tochter verlor ihren reinsten Ton. Der Himmel über dem Haus des Gottes füllte sich mit Wolken.
Einhundert Grundsteine,
Buch der Trauer
Nach so vielen Jahrhunderten fiel es Yasammez schwer, sich wieder an richtiges Tageslicht zu gewöhnen. Selbst diese schüchterne, wolkenverhangene Wintersonne brannte ihr in den Augen, von dem Moment, da sie aufging, bis sie hinter den Hügeln versank. Das war ihr unangenehm, erfüllte sie aber auch mit Verwunderung: War sie wirklich einmal hier in diesen südlichen Landen gewandelt, jeden Tag unter Weißfeuers Himmelsbahn, in einem Licht, so grell, dass es die Schatten in tiefschwarze Streifen verwandelte? Sie konnte sich kaum noch daran erinnern.
Sie hatte die Stadt der Sterblichen eingenommen, aber das war bedeutungslos ohne die Burg — schlimmer als nur bedeutungslos, denn sie hatte die Zeit gegen sich. Yasammez war auf Feuer und Blut gefasst gewesen, auf ihren eigenen lange hinausgezögerten Tod, auf einen sinnlosen Sieg oder auf die endgültige Niederlage, aber sie war nicht darauf vorbereitet ...
zu warten.
Das zermürbende Patt fühlte sich allmählich an, als könnte es so lange dauern, bis die ungewohnte Sonne erlöschen und die Welt sich verdunkeln würde. Sie verfluchte den Pakt des Spiegelglases und sich selbst, weil sie so töricht gewesen war, sich darauf einzulassen — sie hätte sich nie die Hände binden lassen dürfen.
Selbst wenn es gelänge, würde es dem, den sie liebte, nur wenige Lebensmonde mehr einbringen, und wenn sie ihn schließlich verlöre, würde es ihr erst recht das Herz brechen.
Wie gewöhnlich wartete der Verräter auf den Stufen vor der großen Halle, die sie für sich in Besitz genommen hatte — eine Markthalle oder ein Palast, wo die Sterblichen einst dem sinnlosen Einerlei ihres kurzen, geschäftigen Lebens nachgegangen waren. Der, den die Sonnländer
Gil-der-Bierjunge
genannt hatten, blickte auf, als sie sich näherte, und lächelte schwerfällig und traurig. Sein Gesicht war jetzt so menschlich, dass sie kaum noch erkennen konnte, was er einmal gewesen war, und wirkte so unbewegt und stumpf wie Teig.
»Guten Morgen, Herrin«, sagte er. »Werdet Ihr mich heute töten?«
»Hattet Ihr andere Pläne, Kayyin?«
Etwas, das der König mit ihm gemacht hatte, verhinderte es immer noch, mit ihm von Denken zu Denken zu sprechen, deshalb hatten sie auf die Hofsprache von
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