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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
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tiefer ging: Diese eine kleine Handlung, das Anzünden einer Kerze, und das Wissen, dass noch mehr folgen würde, hatten den Tag und auch ihr Haus in etwas fast schon Beängstigendes verwandelt.
    »Nun gut«, sagte Chaven, »jetzt brauche ich etwas, woran ich diesen Spiegel lehnen kann — ja, die Tasse wäre perfekt. Und die Kerze möchte ich hierhin stellen, wo sie widergespiegelt wird, ohne direkt vor dem Jungen zu stehen. Flint, so heißt er doch? Flint, komm her und setz dich hier an den Tisch. Auf diese Bank, ja.«
    Der strohblonde Junge erhob sich und kam heran, jetzt weniger ängstlich als vielmehr verwirrt — und mit gutem Grund, dachte Chert: Es war doch für Eltern, ganz gleich ob leibliche oder Pflegeeltern, ein seltsames Verhalten, ihr Kind einem fremden, bebrillten Gesellen wie diesem zu überlassen, einem Mann, der zwar, gemessen an Seinesgleichen, klein sein mochte, aber hier für alle Möbelstücke zu groß war, damit er etwas mit ihm machte, wovon nur die Alten der Erde wissen mochten, worin es bestand.
    »Es ist alles in Ordnung, Sohn«, sagte Chert plötzlich. Flint sah ihn an und setzte sich dann hin.
    »Nun, Kind, setz dich doch bitte so hin, dass du nichts außer der Kerze siehst.« Der Junge neigte den Kopf ein wenig zur Seite und bewegte dann den Rest seines Körpers nach den sanften Anweisungen des Hofarztes, der hinter ihm stand.
    »Vielleicht solltet Ihr beide Euch irgendwohin stellen, wo er Euch nicht sehen kann«, sagte der Hofarzt zu Chert und Opalia. »Tretet einfach hinter mich.«
    »Wird es ihm wehtun?«, fragte Opalia plötzlich. Der Junge zuckte zusammen.
    »Nein, nein, und nochmals nein. Kein Schmerz, nichts Gefährliches, nur ein paar Fragen, eine kleine ... Unterhaltung.«
    Als Opalia ihren Platz eingenommen hatte und Cherts Hand so fest hielt, wie sie es in seiner Erinnerung schon lange nicht mehr getan hatte, begann Chaven leise zu sprechen. »Jetzt schau in den Spiegel, Junge.« Wie seltsam, dass dieser Mann, der jetzt so besänftigend sprach, noch vor wenigen Stunden geschrien hatte, als wäre er unter einen Steinschlag geraten. »Siehst du die Kerzenflamme? Ja, gut. Sie ist da vor dir, das einzig Helle. Sieh sie an. Betrachte nichts anderes, nur die Flamme. Siehst du, wie sie sich bewegt? Wie sie leuchtet? Das Dunkel auf beiden Seiten breitet sich aus, aber das Licht wird nur noch heller ...«
    Chert konnte Flints Gesicht nicht erkennen — der Winkel des Spiegels ließ es nicht zu —, aber er sah, wie sich die Haltung des Jungen entspannte. Die knochigen Schultern, die sonst wie gegen einen kalten Wind hochgezogen waren, sanken herab, und der Kopf neigte sich zu der Spiegel-Kerze hin, die Flint sehen konnte, aber Chert nicht.
    Chaven sprach auf die gleiche sanfte, ernste Art weiter, von der Kerze und dem Dunkel um sie herum, bis Chert fühlte, wie er selbst in eine Art Trance fiel, bis der Lichtfleck auf der Tischplatte, die Kerze und Flint und der Spiegel in einem schattendunklen Nichts zu schweben schienen. Die Stimme des Hofarztes verklang langsam.
    »Jetzt«, sagte Chaven nach einer Pause, »werden wir zusammen eine Reise unternehmen, du und ich. Fürchte nichts, was du siehst, denn ich werde bei dir sein. Nichts, was du siehst, kann
dich
sehen oder dir in irgendeiner Art und Weise schaden.
Hab keine Angst.«
    Opalia drückte Cherts Hand so fest, dass er seine Finger loswinden musste. Er legte ihr die Hand auf den Arm, um sie wissen zu lassen, dass er immer noch da war, aber auch um zu verhindern, dass sie wieder der Drang überkam, seine Finger zu quetschen.
    »Du bist wieder ein Junge, ein ganz kleiner Junge — vielleicht noch in den Windeln, und du kannst noch kaum laufen«, sagte Chaven. »Wo bist du? Was siehst du?«
    Eine lange Pause folgte, dann ein seltsamer Laut — Flints Stimme, aber eine ganz neue, die Chert noch nie gehört hatte, nichts von der frühreifen Art des halbwilden Jungen, den sie zu sich nach Hause mitgenommen hatten, oder der ängstlichen Verstocktheit, die seit seiner Reise durch die Mysterien über ihn gekommen war. Dieser Flint hörte sich fast so an wie das, was Chaven eben beschrieben hatte — ein sehr kleines Kind, das gerade erst laufen lernte.
    »Seh Bäume. Seh meine Mama.«
    Ungeachtet all seiner Vorkehrungen hatte Opalia Cherts Hand wieder gepackt, und diesmal brachte er es trotz ihres verzweifelten Klammergriffs nicht übers Herz, sie ihr wieder zu entziehen.
    »Und dein Vater? Ist er auch da?«
    »Hab keinen.«
    »Aha. Und wie

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