Das Spiel
Herrin, und ich glaube, ich verstehe die Denkweise des Königs immerhin zum Teil. Vielleicht ist er ja nicht so ohne Weiteres bereit, die Sterblichen zu töten, weil er der Meinung ist, dass sie nicht die Alleinschuldigen sind.«
Sie starrte ihn an.
»Es könnte sogar sein, dass unser König in seiner labyrinthischen Weisheit, und gestützt von den Stimmen seiner — und natürlich auch Eurer — Vorfahren, zu dem Schluss gelangt ist, dass wir womöglich selbst dazu beigetragen haben, uns in diese traurige Situation zu bringen.«
Yasammez erhob sich, blind vor Wut. Ihre äußere Erscheinung vibrierte jäh, und Schattenstacheln fuhren aus. In diesem Moment kam Kayyin dem ihm verheißenen Tod näher denn je zuvor. Aber sie hob nur einen zitternden, eiskalten Finger und zeigte zur Tür.
Er stand auf und verbeugte sich. »Ja, Herrin. Ihr braucht natürlich das Alleinsein, und bei den Bürden, die Ihr tragt, habt Ihr es wahrhaft verdient. Ich erwarte unsere nächste Unterhaltung.«
Als er hinausging, erwachte der Raum hinter ihm mit zuckenden Schatten zum Leben.
Die fremde, grell leuchtende Sonne war längst untergegangen. Yasammez saß im Dunkeln.
Eine sanfte Stimme keimte im Inneren ihres Kopfes auf.
Kann ich Euch sprechen, Herrin?
Sie erteilte die Erlaubnis.
Die ferne Tür öffnete sich. Die Besucherin glitt hinein wie ein Blatt, das von einem Bach dahingetragen wird. Sie war groß, fast so groß wie Yasammez selbst, und so schlank wie eine junge Weide. Ihr weißes Kapuzengewand schien sich langsamer zu bewegen als sie und wallte hinter ihr her wie unter Wasser.
Hat sich etwas verändert, Aesi'uah?,
fragte Yasammez.
Die Frau blieb vor dem Stuhl stehen und machte eine rituelle Huldigungsgeste mit emporgekehrten Händen, während ihr seltsames, unbewegtes Gesicht zu Yasammez aufblickte. Ihre blassblauen Augen leuchteten wie Sonnenlicht hinter farbigem Glas und verliehen dem grauen Gesicht etwas Leben. Wäre dieser strahlende Blick nicht gewesen, hätte sie eine uralte Statue sein können.
Herrin, etwas hat sich verändert, aber nur geringfügig. Ich dachte dennoch, dass Ihr es erfahren solltet.
Jemand anderes als Yasammez, jemand anderes als die für ihre Unerschütterlichkeit berühmte Fürstin Stachelschwein, hätte vielleicht geseufzt. Aber sie nickte nur.
Ihre Obereremitin breitete wieder die Arme aus, diesmal zur Geste des Wahrheit-Bringens. Aesi'uah war vom Blute der Traumlosen, und wenn dieses Blut auch durch ihr Qar-Erbe verdünnt war, so hatte sie doch von jenen Ahnen neben ihrem Mondsteinblick zumindest einen Zug geerbt: Sie hielt einfach nichts von Lügen oder taktischen Äußerungen, was auch der Grund war, warum Yasammez sie von allen Mitgliedern ihres Eremitinnenordens am meisten schätzte.
Die Berührung mit dem Spiegelglas des Königs hat ihn unruhig gemacht.
Erwacht er bereits?
Nein, Herrin.
Das Gesicht war ruhig und gelassen, aber die Worte waren es nicht.
Aber er bewegt sich, und irgendetwas ist anders, wenn ich auch nicht sagen kann, was. Er ist wie ein Fiebernder — unruhig, voller verstörender Träume.
Bei diesen Worten hätte Yasammez unwirsch die Stirn gerunzelt, hätte sie es sich nicht abgewöhnt gehabt, Gefühle so unverhüllt zu zeigen.
Wir wissen nichts über seine Träume.
Gewiss nicht.
Aesi'uah neigte den Kopf.
Aber sein Schlaf scheint von jener Art, und, was ebenso wichtig ist, seine Ruhelosigkeit macht auch die anderen Schläfer unruhig.
Sie wollte die Obereremitin gerade fragen, wie lange es noch dauern würde, bis alles ein für allemal enden würde, als eine andere Stimme in ihrem Kopf sprach, so schwach wie ein ersterbender Wind.
Wo bist du ... hörst du mich? Kennst du mich?
Natürlich kenne ich dich, mein Herz.
Schreckliche Angst überkam Yasammez, aber sie versuchte, sie aus ihren Gedanken zu verbannen.
Wie konntest du daran zweifeln?
Ihr Geliebter war für einen Moment verschwunden, dann war seine Stimme wieder da, seufzend, brüchig.
So ... kalt. So ... dunkel.
Yasammez machte das Zeichen für »Audienz beendet«. Aesi'uahs Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Sie kehrte wieder die Hände nach oben und glitt dann aus dem Gemach wie ein Geisterschiff, das unter dem Mond dahinsegelt.
Sprich zu mir, mein Herz,
sagte Yasammez.
Ich fürchte ... ich falle bald in ... jenen großen Schlaf ...
Nein. Kraft ist auf dem Weg zu dir. Ich habe das Spiegelglas geschickt.
Wo ist es? Ich fürchte, es wird niemals ankommen.
Die Gedanken waren verzagt und so
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