Das Spiel beginnt
Er war betrunken.« Fast abwesend strich er mit dem Finger an der Narbe entlang. »Eigentlich fing es an wie immer. Worte, Stöße, Faustschläge. Dann hatte er plötzlich ein Messer. Vermutlich war er zu betrunken, um zu wissen, was er tat, aber er hat es an mir benutzt.«
»Oh Gott.« Spontan griff sie nach seiner Hand. »Das ist ja schrecklich. Warum hat niemand die Polizei gerufen?«
Trotz des Reichtums, der umfangreichen Ausbildung, der vielen Reisen hatte sie offenbar ein behütetes Leben geführt – oder vielleicht gerade deswegen. »So werden die Dinge nun mal nicht immer geregelt«, sagte er einfach.
»Aber er hat auf dich eingestochen«, erwiderte sie mit einer Mischung aus Logik und Entsetzen. »Man muss ihn doch festgenommen haben.«
»Nein.« Justins Blick blieb so ruhig und fest wie seine Stimme. »Ich habe ihn getötet.«
Serenas Hand erschlaffte in seiner. Justin sah, wie sich vor Schock ihre Augen hinter den getönten Gläsern weiteten. Er spürte, wie sie sich von ihm zurückzog. Dann legten ihre Finger sich fester um seine. »In Notwehr«, sagte sie mit nur einem leichten Beben in der Stimme.
Er sagte nichts. In all den Jahren hatte er sich genau danach gesehnt, nach diesem schlichten, bedingungslosen Vertrauen. Während des Schmerzes der Tage im Krankenhaus, während der kalten, einsamen Angst in der Zelle vor dem Prozess. Damals hatte niemand an ihn geglaubt. Niemand hatte ihm etwas von dem Vertrauen und der Hoffnung zurückgegeben, die er während dieser endlosen leeren Tage verloren hatte. Als sie seine Hand zwischen ihre nahm, bewegte sich etwas in ihm und kroch aus einem lange verriegelten Versteck hervor.
»Ich griff nach dem Messer«, fuhr Justin fort. »Wir stürzten zu Boden. Und dann erwachte ich im Krankenhaus, als Beschuldigter in einem Mordprozess.«
»Aber es war sein Messer.« In ihrer Stimme lag nackte Entrüstung, keine Frage. »Er hat dich angegriffen.«
»Bis das herauskam, dauerte es eine Weile.« Justin konnte sich an jede einzelne Stunde, jede einzelne Minute des Wartens erinnern. An den Geruch in der Gefängniszelle, an die Gesichter im Gerichtssaal. Die Angst, die Wut. »Als es dann so weit war, wurde ich freigesprochen.«
Mit wie vielen weiteren Narben, fragte Serena sich. »Keiner der anderen wollte für dich aussagen.« Sie wusste es instinktiv. »Die, die auch noch in der Bar gewesen waren.«
»Ich war keiner von ihnen«, sagte er tonlos. »Aber sie hielten sich an die Wahrheit, sobald sie unter Eid standen.«
»Es muss ein schreckliches Erlebnis für einen Jungen gewesen sein.« Da Justin lediglich eine Augenbraue hochzog, bemühte Serena sich um ein Lächeln. »Mein Vater würde sagen, ein Mann ist erst mit dreißig ein Mann, vielleicht auch mit vierzig. Er legt sich da ungern fest.«
Wie gut er mich kennt, dachte Justin. Er war versucht, ihr hier und jetzt von seiner Beziehung zu Daniel zu erzählen, zwang sich jedoch, beim ursprünglichen Plan zu bleiben. »Ich habe dir das erzählt, weil du vermutlich ohnehin Bruchstücke davon hörst, wenn du mein Angebot annimmst. Und es ist mir lieber, wenn du alles auf einmal von mir erfährst.« Er sah, dass er ihre Neugier geweckt hatte.
»Was für ein Angebot?«, fragte sie misstrauisch.
»Ein Job.«
»Ein Job?«, wiederholte Serena und lachte. »Was hast du vor? Einen schwimmenden Blackjacktisch mit mir als Geberin?«
»Eigentlich schwebt mir etwas Stationäres vor«, murmelte Justin und ließ seinen Blick nach unten wandern. »Wie sicher sind diese dünnen Träger?«
»Sicher genug.« Sie widerstand dem Drang, daran zu ziehen. »Warum erzählst du mir nicht genau, was du vorhast, Justin? Ganz ehrlich.«
»Na schön.« Abrupt verschwand die Belustigung aus seinen Augen. Sie wurden wieder kühl und sahen in ihre. »Ich habe dich bei der Arbeit beobachtet. Du bist sehr gut. Nicht nur mit Karten, auch mit Menschen. Du kannst Spieler schnell einschätzen, und dein Tisch ist fast immer voll, während andere immer wieder ausdünnen. Außerdem kannst du mit Spielern umgehen, die sich über ihre Karten ärgern oder etwas zu viel getrunken haben. Alles in allem«, fügte er sachlich hinzu, »hast du eine Menge Stil.«
Serena war nicht sicher, worauf er hinauswollte, und zuckte mit den Schultern. »Und?«
»Und ich kann jemanden mit deinem Talent gebrauchen.« Er musterte sie sorgfältig und schlug die Beine unter.
Serena fand, dass er seinem berüchtigten Kidnapper-Vorfahren etwas zu ähnlich sah. Sie schob
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