Das Spiel der Könige - Gablé, R: Spiel der Könige
als Julian aufschaute, forderte der taubstumme Steward ihn mit einer ungeduldigen Geste auf, sich ein wenig deutlicher auszudrücken.
Julian nickte geistesabwesend. Dann nahm er sich zusammen und stand auf. An den zwielichtigen Boten gewandt fragte er: »Hast du aufgegessen? Dann geh mit Gott. Hier.« Er fischte einen Schilling aus der Tasche. Eigentlich ein zu großzügiger Botenlohn für solch eine Gestalt, aber der Weg von London war weit und die Straße verschneit.
Der Londoner Beutelschneider ließ die Münze in seinen Lumpen verschwinden, verneigte sich übertrieben vor Julian und wandte sich zur Tür.
»Geleite den Boten zum Tor und vergewissere dich, dass er gut auf den Weg kommt«, wies Julian seinen Knappen an.
Alexander erhob sich, und als er an Julian vorbeikam, raunte der ihm zu: »Gib Acht, dass er nichts mitgehen lässt und dich nicht ausnimmt.«
Julian wartete, bis die Schritte auf der ausgetretenen, steinernen Treppe verklungen waren. Dann ging er an seinen Platz an der hohen Tafel, setzte sich aber nicht. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, manche gespannt, andere furchtsam.
»Wie es aussieht, habe ich mich getäuscht. Der Krieg ist noch nicht vorbei. Edward of March, der Erbe des Duke of York, hat sich in London zum König ausrufen lassen. Der Bischof von Exeter – das ist mein Vetter George Neville, Warwicks Bruder – hat die Zeremonie überwacht, also können wir davon ausgehen, dass sie keine Formfehler aufwies. Ein hastig zusammengeschusterter ›Kronrat‹ aus Yorkisten hat beschlossen und verkündet, dass Edward König Henry ablösen soll. Am vergangenen Mittwoch ist Edward of March nach Westminster geritten und hat …« Julian musste sich unterbrechen. Sein Herz schlug bis in die Kehle, und er wollte nicht, dass seine Stimme bebte bei dem, was er zu sagen hatte. Er sammelte sich einen Augenblick, sah in die vertrauten Gesichter in seiner Halle und fuhrdann fort: »Er hat sich Henrys Staatsroben unter den Nagel gerissen, die in den königlichen Gemächern im Palast verwahrt werden, hat sie angelegt und auf dem Thron in der Halle Platz genommen. Er nennt sich Edward IV. von England.«
Die Versammelten sprangen auf die Füße und protestierten. Empörung, Zorn, Unglauben sah Julian in ihren Mienen. Und Furcht. Es war ein getreulicher Spiegel seiner eigenen Empfindungen: Empörung und Zorn über diese dreiste Machtergreifung; Unglaube, dass dies hatte passieren können, nachdem sie die Yorkisten bei St. Albans doch geschlagen hatten; und Furcht vor dem Abgrund, der mit einem Mal wieder vor ihren Füßen gähnte.
Aber er war Lord Waringham und stand am Platz des Burgherrn in der Halle seiner Väter. Also bewahrte er die Fassung und ließ sich nicht anmerken, wie es in ihm aussah. Das fiel ihm nicht einmal so schwer, wie er angenommen hätte. Er hatte auch keine Zweifel mehr, dass er die Rolle füllen konnte, die ihm zugefallen war, weil er gelernt hatte, dass man in die Rollen hineinwuchs, die Gott einem zuteilte. Das bescherte ihm keine traumwandlerische Sicherheit, keine Garantien, dass alles, was er fortan tat, zu einem guten Ende führen würde, aber doch immerhin die tröstliche Erkenntnis, dass das, was war, sein sollte. Und ihm kam die Frage in den Sinn, ob der noch nicht einmal zwanzigjährige Edward of March diesen unerhörten Schritt vielleicht gewagt hatte, weil er genau das Gleiche empfand.
Die Menschen in der Halle beruhigten sich allmählich wieder, und schließlich fragte Simon Neville: »Was wirst du jetzt tun?«
Julian hielt den Brief hoch. »Lucas schreibt, die Königin zieht nach Norden, um neue Truppen auszuheben. Ich nehme an, Edward wird ihr folgen. Das täte ich jedenfalls an seiner Stelle. Er wird die Entscheidung suchen, denn ehe sie nicht gefallen ist, bleibt sein Anspruch auf den Thron eine leere Drohung. Ich schätze, dass nicht viel Zeit ist, also brechen wir morgen früh auf. Daniel?« Er sah sich suchend in der dämmrigen Halle um.
»Hier bin ich, Vetter.« Der altgediente Soldat trat vor, und ein erwartungsvolles Funkeln lag in seinen Augen.
»Geh ins Dorf. Ich denke, ich kann dreißig Männern Sold zahlen. Klopf nur bei denen an, die kampferfahren sind und brauchbare Waffen besitzen. Sag ihnen, ich zwinge niemanden, aber ich bin dankbar für jeden Freiwilligen. Sag ihnen aber auch, dass wir wahrscheinlich nicht alle heimkehren werden. Edward of March ist ein hervorragender Kommandant, und der Winter im Norden ist gnadenlos. Das wird kein
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