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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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harmlosen Art. Gilles war weiterhin geradezu unanständig freundschaftserweckend und ein dankbarer Zuhörer, der an den richtigen Stellen lachte und sich ein paar Verse wiederholen ließ, wenn ihm die deutschen Worte fehlten, weil er auf gar keinen Fall etwas falsch verstehen wollte. Niemand spielte mehr auf irgendwelche Reisen an, doch als die Zeit kam, sich für die Nacht zurückzuziehen, zog Stefan Walther beiseite und fragte offen, ob man in Hagenau vom kleinen Friedrich oder von Philipp als dem nächsten König spreche.
    »Nun, von einem großen Helden ist gewiss nicht die Rede«, sagte Walther. »Ich muss sagen, Meister Stefan, Ihr überrascht mich. Ich habe gehört, dass der König von England einer der ersten Streiter unserer Zeit sein soll, und ich weiß selbst, dass er seine Worte zu setzen versteht, aber vor allem anderen scheint er gut darin zu sein, die Gelder eines Landes für seine Kriege zu nutzen. Also hätte ich nicht erwartet, dass sich ausgerechnet ein Kaufmann ihn zum Herrscher wünscht.«
    »Auch Ihr überrascht mich, Herr Walther. Ich hätte nicht geglaubt, dass ausgerechnet ein Sänger seine Fabeltiere nicht der richtigen Geschichte zuordnen kann«, entgegnete Stefan und ließ ihn gehen, nicht ohne zu verkünden, es sei wohl besser, wenn Herr Walther in einem anderen Raum untergebracht würde als dort, wo ein wissenshungriger Knabe des Schlafes bedürfe. Er schlug die Seitenkammer vor, in der Judith ihre Instrumente, Salben und Kräutertränke verstaut hatte und Patienten behandelte. Judith erklärte, in diesem Fall ihre Sachen schnell selbst beiseiteräumen zu wollen, da sie niemandem zutraute, im Halbdunkel nichts umzuschütten oder gar zu zerbrechen. Sie nahm einen der Leuchter in die Hand, die mit echten Kerzen bestückt waren, keinen Talglichtern, was den Wohlstand von Stefans Haus verriet. Walther folgte ihr, halb in der Erwartung, dass Gilles oder sonst ein Haushaltsmitglied es auch tun würde, doch er fand sich allein mit Judith in der engen Seitenkammer wieder.
    Es lag ihm so viel auf der Zunge, doch er blieb sprachlos. Er wollte eine spöttische Bemerkung darüber machen, wie schnell sie sich verheiratet hatte und dass sie in Nürnberg vor ihm davongelaufen sei. Eine entschuldigende Bemerkung, weil er sie geküsst hatte. Eine reuige Bemerkung, weil er sie nicht genug geküsst hatte. Eine beifällige Bemerkung, weil sie glücklich zu sein schien. Eine bewundernde Bemerkung darüber, dass sie ihm Hagenau entlockt hatte. Am Ende sagte er nichts dergleichen. Er beobachtete ihre langen, schmalen Finger dabei, wie sie Schalen wegräumte, die vor einer Truhe aufgereiht standen und Salben enthielten, und sagte: »Es ist nicht der König von England, den Euer Onkel und seine Freunde auf dem Thron sehen wollen, nicht wahr? Es muss einer seiner Neffen sein. Adler und Löwe, ein Leopard und ein Vogel. Einer der Welfen.«
    »Ihr hättet Euch das etwas schneller zurechtreimen können«, erwiderte sie, ohne es zu verneinen. »Er hat Euch genügend Hinweise gegeben.«
    »Aber er hat mir keinen Hinweis darauf gegeben, warum Euch der Gedanke so zuwider ist«, sagte Walther leise.
    Sie hielt inne und schaute zu ihm. Ihre braunen Augen waren im flackernden Schein des Leuchters sehr dunkel. »Seid Ihr dem Grafen von Poitou begegnet, als er Geisel am Wiener Hof war?«
    Das war er, und er hatte sich dabei gedacht, dass ein Leben als adelige Geisel kein schlechtes war: Der einzige Unterschied zu einem Dasein als geehrter Gast schien zu sein, dass bei einer Geisel stets ein Wächter blieb. Doch Graf Otto hatte an den meisten Gastmählern im Palas teilgenommen; die Mitglieder des Hofstaats hatten ihm die Ehrerbietung entgegenzubringen, die dem Neffen eines Königs gebührte. Sonst war Walther von Otto nicht viel in Erinnerung geblieben. Dafür fiel ihm wieder ein, dass Judith etwas über ihn gesagt hatte, zu der Herzogin Helena, etwas ganz und gar nicht Freundliches. Aber Stefan hatte sie und ihren Vater nicht nach Klosterneuburg begleitet, und Judiths bittere Bemerkung über Stefans gütergewinnende Reisen hatte auch nicht danach geklungen, als beziehe sie sich auf etwas, das schon Jahre zurücklag. Allmählich setzten sich für ihn die Teile zu einem Ganzen zusammen.
    »Seid Ihr dem Grafen Otto erst kürzlich wieder begegnet?«, fragte er, und sie nickte, ohne etwas zu erwidern. Was auch immer sie dazu gebracht hatte, Otto zu verabscheuen, musste ihr so unangenehm sein, dass sie keine Worte an ihn

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