Das Spiel der Nachtigall
war er nicht gefasst: Judith Hand in Hand mit einem gutmütig lächelnden Mann vor sich stehen zu sehen, der auf seine hochgewachsene, muskulöse Art das Idealbild eines Helden zeigte, und Stefan von »meinem neuen Neffen Gilles und seiner Gattin, meine Nichte Jutta, die Ihr ja kennt« sprechen zu hören. Er blieb stumm, bis Judith sich von ihrem Gemahl löste, auf ihn zutrat und mit einer geradezu erzürnend ruhigen und zuvorkommenden Stimme fragte: »Herr Walther, wie geht es Euch? Was führt Euch nach Köln?«
Zum Glück fielen ihm dann doch wieder ein paar der Bemerkungen ein, die er sich zurechtgelegt hatte, und er hörte sich antworten: »Der Wind; was treibt uns Singvögel sonst von einem Ort zum anderen?«
»Die Aussicht auf Futter«, warf Stefan ein.
Walther fragte sich, ob er das Haus sofort verlassen sollte. Schließlich gab es viele Möglichkeiten, zu erfahren, welche deutschen Fürsten ihre Boten nach Köln schickten. Er hatte es nicht nötig, sich beleidigen zu lassen. Schon gar nicht von einem Kölner Pfeffersack, der ihn doch eigentlich eingeladen hatte.
»Die Aussicht darauf, gehört zu werden«, sagte Judith. Sie klang immer noch ruhig und zuvorkommend, und aus irgendeinem Grund fand er das schlimmer, als wenn auch sie ihn beleidigt hätte. »Das ist doch der beste Grund für einen Vogel, zu reisen.«
»Nun, warum Vögel reisen, kann ich nicht sagen«, meinte ihr Hüne von einem Gemahl, »aber ich selbst war immer froh, wenn ich ehrliche Gastfreunde fand. Es geht doch nichts darüber, das Brot mit Menschen zu teilen, die Freude an der Gesellschaft anderer haben und manches zu erzählen wissen. Seid willkommen, Herr Walther!«
Es wurde also immer schlimmer: Ihr Gemahl war kein tumber Grobian wie Dietrich von Meißen, sondern ein umgänglicher Mensch, der gerade sein Bestes gab, um einen Fremden willkommen zu heißen, und versuchte, eine Spitze des Hausherrn zu entkräften! Walther ahnte, dass ein dunkler Teil von ihm zufrieden gewesen wäre, Judith mit einem Scheusal verbunden zu finden, wenn sie schon verheiratet sein musste. Um sie vor dieser Ehe zu retten, gewiss; in dem Moment, als Stefan von »meinem neuen Neffen« sprach, hatte er sich in das Lied von seinem Namensvetter und Hildegunde hineinversetzt gefühlt und gewusst, dass er mit Judith geradeso wie jener Walther fliehen würde. Eine Frau, die man liebte, ins Elend zu wünschen, um sie retten zu können, war etwas, dessen Walther sich nicht für fähig gehalten hätte. Es verstörte ihn fast so sehr wie seine Stummheit in Wien, wie die Entdeckung, dass Stefan ihr Onkel war, oder die Erkenntnis, dass er bei allem Leugnen doch von Gefühlen für sie sprechen musste.
»Ich danke Euch«, sagte er so freundlich wie möglich zu dem Glückspilz Gilles, entschlossen, den beschämenden Wunsch in sich wiedergutzumachen. »Der armseligste Vogel ist der, welcher für sein Brot nicht singen kann, und es gibt nichts Schöneres, als seine Verse für liebenswerte Gastgeber zu schmieden.«
»Nun, um offen zu sein«, meldete sich Stefan etwas verlegen zu Wort, »Ihr werdet ein Bett mit meinem Sohn teilen müssen, doch für Euer Ross dürfte Platz im Stall zu finden sein.«
Walther fand sich schließlich bei den Sprösslingen des Kaufmanns in der Stube des Wohnhauses wieder, wobei die Tochter scheu an der Seite ihrer Mutter blieb, während der Sohn unbedingt wissen wollte, ob er auch Geschichten über Drachen kannte. Es war nicht gerade das, worauf Walther sich vorbereitet hatte, doch er erzählte, was ihm von dem neuen Lied über die Nibelungen im Gedächtnis war, und von den älteren Versionen der Geschichte. Die gebannten Gesichter des Jungen und seiner Schwester bereiteten ihm Vergnügen. Als jedoch Judith, ihr Gatte und Stefan dazukamen, konnte Walther nicht widerstehen und begann eine neue Geschichte, von einer wunderbaren Pastete, die ein Koch für den Adler backte, von der aber nichts mehr übrig war, bis sie den König der Vögel erreichte, weil viele kleine Zaunkönige alles weggefressen hatten, im Glauben, es würde sie selbst zu Adlern machen.
»Mir hat die Geschichte von Siegfried besser gefallen«, maulte Stefans Sohn.
Walther legte die Hand aufs Herz. »Das geht vielen so, selbst mir.«
»Mir scheint, Ihr seid ein wenig ungerecht gegenüber den Zaunkönigen, Herr Walther«, sagte Judith, die auf einem Schemel neben dem neumodischen Kachelofen saß, mit dem ein reicher Kaufmann wie Stefan sein Haus ausstatten konnte. »Hat denn der
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