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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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in dem Brief. Es … es ist nicht gut, wenn mein Vater erzürnt ist, Magistra. Ich habe Walther gerne, das wisst Ihr.«
    Sie nickte und versuchte, die Sache logisch zu durchdenken. Unglücklicherweise war die einzige Möglichkeit, die ihr sofort in den Sinn kam und nichts mit Wolfger zu tun hatte, alles andere als beruhigend: Walther hatte ihr erzählt, was mit den Pilgern geschehen war, mit denen er zum ersten Mal über die Alpen nach Rom gereist war.
    »Vielleicht ist er auf dem Weg nach Salerno Wegelagerern begegnet«, sagte sie, denn von Wegelagerern erschlagen worden wollte sie nicht aussprechen. Das konnte nicht sein. Nein, das durfte nicht sein! Ganz gleich, wie vielen anderen Menschen so etwas geschah, es durfte Walther nicht geschehen. Leider war die andere Erklärung, die ihr Verstand ihr gab, kaum beruhigender: Wolfger hatte sich als genauso betrügerisch erwiesen, wie sie befürchtet hatte, wollte jedoch wie die meisten Väter gut vor seinem Sohn dastehen und überdies dafür sorgen, dass Hugo sicher zu ihm zurückkehrte; daher hatte er den Brief so geschrieben, um Judith davon zu überzeugen, dass er völlig unschuldig an Walthers Schicksal war.
    Es gab nur eine Kleinigkeit, die ihr Grund gab zu hoffen, dass keine der beiden Erklärungen zutraf: das Manuskript. Sie erinnerte sich, wie aufgeregt und glücklich Walther gewesen war, als Wolfger ihm jenes Pergament zu lesen gab. Sie hatte gelernt, wie wichtig und kostbar die Reinschrift eines Liedes dem Verfasser war; was die Erstschrift eines langen Epos – oder zumindest eines Teiles daraus – dem Verfasser bedeuten musste, das konnte sie sich vorstellen. Walther hätte sich nie mit Wolfgers Manuskript davongemacht. Mit einer Abschrift gewiss, doch nicht mit dem ihm anvertrauten Original. Umgekehrt gab es für Wolfger, wenn er Walther auf dem Gewissen hatte, keinen Grund, die Geschichte mit dem Manuskript einzubauen. Es wäre viel einfacher gewesen, Hugo unmissverständlich zu schreiben, er möge umgehend Salerno verlassen, ohne noch einmal mit der Magistra Judith zu sprechen.
    Walther musste demnach noch in Rom sein.
    Es war ein schwacher Strohhalm, auf den sie ihre Hoffnung baute, doch sie konnte nicht anders, sie ergriff ihn.
    »Von Wegelagerern? Glaubt Ihr wirklich?«
    »Nein«, sagte Judith, räusperte sich und gewann die Festigkeit ihrer Stimme zurück, »nein. Ich glaube gar nichts, nur, dass wir nicht wissen, was geschehen ist, Herr Hugo, und wir umgehend nach Rom aufbrechen sollten, um es herauszufinden.«

    Es war leichter gesagt als getan, vor allem, weil Hugo mit dem Gedanken liebäugelte, Alexios bis Messina zu begleiten, doch er war empfänglich für Appelle an seine Ritterlichkeit, Tapferkeit und freundschaftliche Treue, und das wusste sie. Außerdem scheute sie nicht davor zurück, ihm einzureden, der seltsame Brief seines Vaters könne ein versteckter Hilferuf gewesen sein.
    »Am Ende«, sagte Judith, »hegt der Papst Groll gegen Euren Vater, seines steten Einsatzes für König Philipp wegen, und Euer Vater scheut in seinem Stolz davor zurück, dergleichen offen zu bekennen. Stattdessen schreibt er etwas, das Euch, der ihn so gut kennt, stutzig machen muss und unbedingt bestrebt, sofort nach Rom zu eilen.«
    »Das … hmm … das ist möglich, aber …«
    »Hätte die Botschaft einen Hilferuf enthalten und wäre abgefangen worden, dann wüssten Feinde Eures Vaters in der Kurie, dass Ihr, Herr Hugo, auf dem Weg zu ihm seid. Am Ende wäre Euer eigenes Leben in Gefahr, ehe Ihr ihm helfen könnt. So dagegen ahnt niemand etwas. Ja, ich bin mir sicher, er rechnete mit Eurer Klugheit, Eurer Umsicht und Eurem Mut.«
    »Aber wenn es wirklich so gefährlich aussieht, wäre es da nicht besser, Ihr würdet in Salerno bleiben?«
    »Wenn Euer Vater nicht auch auf meine Gegenwart hoffte, dann hätte er mich in seinem Brief nicht erwähnt. Vielleicht braucht er eine Ärztin, der er vertrauen kann? Herr Hugo, leider muss ich gestehen, dass es Medici gibt, die ihren Patienten Mittel einflößen, die schaden, statt zu heilen, und so ihre Eide aufs schändlichste verletzen.«
    Hugos Miene wurde immer entsetzter. Sie horchte in sich hinein und stellte fest, dass sich bei ihr keine Gewissensbisse meldeten. Sie hatte Angst um Walter – nichts war wichtiger.
    »Bei allen Heiligen, Ihr habt recht. Wir müssen sofort nach Rom aufbrechen!«
    Da Francesca sowohl klüger als auch erfahrener als Hugo war, versuchte Judith erst gar nicht, ihr etwas vorzumachen, als

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