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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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auslösten, waren Angst und Enttäuschung. »Und ich dachte, wir seien hier, weil du an mein Talent in der Heilkunst geglaubt hast«, sagte sie in einem scherzhaften Tonfall, damit er nicht spürte, wie ernst ihr diese Worte waren.
    »Mein liebes Kind, ich werde nicht jünger«, entgegnete ihr Vater ohne jedes Lächeln. »Und ich werde dich nicht allein in der Welt ohne Schutz zurücklassen.«
    Jede der zehn Ärztinnen, die sich derzeit in Salerno befanden, war verheiratet. Viele hatten mit dem Studium erst nach ihrer Eheschließung begonnen; die anderen waren wie Judith Töchter oder Nichten der Lehrenden und verheiratet, ehe sie ihre Ausbildung beendeten. Eigentlich hätte sie einen Antrag erwarten sollen. Doch wenn sie an Meir dachte, dann kam ihr nicht der Wunsch in den Sinn, ihm in die Arme zu sinken, sondern der Stich in das Auge eines Kollegen, den er ausgeführt hatte, und ein anregendes Streitgespräch darüber, ob nun Rufus von Ephesus oder Galen recht hatte, was die Ursache des grauen Stars betraf. Sie versuchte, sich sein Gesicht vor Augen zu rufen, doch es war leichter, sich an seine Finger zu erinnern, die bei dem gefährlichen Starenstich bewundernswert ruhig gewesen waren.
    Es ist, sagte sich Judith, eine gute Grundlage für eine Ehe, die Fertigkeiten eines Mannes zu bewundern. Das würde ihr erlauben, ihm den Respekt und die Achtung entgegenzubringen, die – so hatte man es sie von klein auf gelehrt – eine Ehefrau ihrem Gatten zeigen musste. Was ihre eigenen Fertigkeiten betraf, so würde sich Meir ihrer nicht schämen und ihr erlauben, sie weiterhin auszuüben; hätte der Vater sie in Köln verheiratet, wäre ihr verboten worden, irgendjemanden außerhalb ihrer eigenen Familie zu pflegen. Überdies war Meir noch nicht alt, und sie musste nicht befürchten, dass er sie bald als Witwe zurückließ. Ja, er war in jeder Hinsicht eine gute Partie; sie sollte froh und glücklich über diesen Antrag sein, ihrem Vater um den Hals fallen und ihm versichern, dass sie nichts mehr ersehne, als Meirs Frau zu werden.
    »Wie könnte ich allein sein in einer Welt, in der es täglich neue Patienten gibt«, flüchtete sie sich ein weiteres Mal in einen Scherz.
    »Judith«, sagte ihr Vater stirnrunzelnd, »du bist der Trost meines Alters, doch vielleicht habe ich dir mehr Freiheit gelassen, als gut für dich war. Hast du dein Herz bereits an einen anderen verschenkt?«
    »Nein«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Vater, der einzige Mann, der mich zum Schwärmen bringt, weilt im fernen Ägypten und ist in deinem Alter. Wegen Rabbi Mosche ben Maimon brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« Sie verschwieg, dass vielmehr sie sich sorgte – Meir schien ihr nicht der Mann zu sein, dem sie ihr Geheimnis anvertrauen konnte, und lügen wollte sie nicht, keinesfalls.
    »Ich denke, unser Lehrer Mosche dürfte noch etwas älter sein als ich«, entgegnete Josef, und seine Stirn klärte sich. »Mit diesem Rivalen wird Meir leben können.« Er lächelte sie an. »Wenn ich daran denke, wie mir unser Vetter Salomon in den Ohren lag wegen dieses christlichen Sängers!«
    Ich habe noch nicht gesagt, dass ich einverstanden bin, Meir zu heiraten, dachte Judith, obwohl sie wusste, dass es auf ihr Einverständnis nicht ankam. Daran wollte sie nicht denken, solange es sich vermeiden ließ, also fragte sie laut und verwundert: »Wegen wem?« Es war eine kleine Schwindelei, denn sie wusste sehr wohl, auf wen er sich bezog; jedes Ereignis an jenem Tag war ihr ins Gedächtnis gebrannt. Doch nichts davon hatte mit ihrem Mangel an Begeisterung für eine Ehe mit Meir zu tun, dessen war sie gewiss, und daher war es eine Unwahrheit im Dienste einer Wahrheit.
    Ihr Vater schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf, wie um zu sagen, dass er sie durchschaue, doch er wechselte das Thema. »Nun, dann ist ja alles geklärt, und wir können uns wieder auf den Rückweg machen; ich fühle mich ein wenig schwach und will zeitig zu Bett gehen.« Sie bot ihm ihren Arm an, um ihn zu stützen, doch er lehnte ab. Eine Zeitlang schritten sie schweigend nebeneinanderher. Es bestürzte sie, dass er noch nicht einmal in Erwägung zog, dass sie nein sagen könnte, auch wenn es keinen anderen Mann gab. Während sie noch überlegte, wie um alles in der Welt sie ihm klarmachen konnte, dass sie nicht heiraten wollte, ohne über die Geschichte mit ihrem Schwager zu sprechen und ohne undankbar zu klingen, ging plötzlich ein jäher Ruck durch ihn. Sein Kopf rollte

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