Das Spiel der Nachtigall
ausgekugeltes Gelenk zurechtrenkte. Aber sie musste offenbar noch üben, wie man Patienten ablenkte, denn Salvaggia barg das Gesicht in ihren Händen.
» Glück sagt Ihr? Warum ist mir das dann geschehen, Magistra? Warum?«
All die Lehren ihres Vaters, ihre Studien und das, was sie seit ihrer Ankunft in Salerno gelernt hatte, gaben Judith keine Antwort. Natürlich hatte sie schon früher Verwundete in ihrem Schmerz »Warum?« brüllen hören, und Ärzte wie Pfleger sagten dann, es sei Gottes Wille. Auch ihr Vater tat das, als sie das erste Mal gemeinsam Schiwa saßen für ihre Mutter und das letzte Mal für ihre jüngste Schwester. Vielleicht war es Gottes Wille gewesen, doch in Salvaggias Fall glaubte Judith, dass man andere dafür verantwortlich machen konnte. Ertaste die Wurzel des Übels, hatte ihr Vater sie gelehrt, auch wenn er etwas anderes gemeint hatte, und dann benenne sie.
»Weil der Kaiser Heinrich seinen Männern befohlen hat, Eure Stadt zu zerstören«, sagte sie. »Ich weiß nicht, warum er das tat; jenseits der Alpen wussten wir nur, dass der Kaiser nach Sizilien zog, um sich das Erbe seiner Frau zu holen.«
»Unsere Kaiserin war hier, nicht auf der Insel«, erklärte Salvaggia tonlos. »Er glaubte, die Stadt sei ihm treu. Aber Salerno stand auf der Seite der Kaiserin Konstanze, denn sie ist die Erbin des Königreichs Sizilien. Ihre Väter haben die Insel vor über hundert Jahren von den Moslems befreit, nicht er, der Mann aus Schwaben. Heinrich behauptete, wir hätten sie an ihren Vetter auf Sizilien ausgeliefert und damit ihn und die Gastfreundschaft verraten, aber das ist nicht wahr. Konstanze wollte zu ihrem Vetter! Sie hasst ihren Gemahl. Genau wie jeder andere bei uns, nach dem, was er befohlen hat. Eine Spur von Feuer und Blut hat er durch alle Städte gezogen, die ihm widerstanden, von Neapel bis Syrakus und Catania. Er muss der Antichrist selbst sein.« Sie bekreuzigte sich. »Und nun hat er auch noch einen Sohn von ihr. Oh, ich verwünsche ihn! Den Kaiser und seinen Sohn und seine Männer! Mögen sie alle qualvoll und in Schmerzen sterben und für alle Ewigkeit in der Hölle schmoren!«
Von dem Sohn hatten Judith und ihr Vater gehört, als sie mit der Schneeschmelze die Alpen überquert hatten. Die Kaiserin Konstanze war fünfzehn Jahre älter als ihr Gemahl, und so hatte niemand sie mehr für fähig gehalten, mit fast vierzig noch ein Kind auf die Welt zu bringen. Und doch hatte sie am Weihnachtstag – gerade als der Herzog von Österreich mit seinem einwöchigen Sterben begann – einen Sohn zur Welt gebracht, vor aller Öffentlichkeit auf dem Marktplatz von Jesi, damit niemand behaupten sollte, es sei ein Kind untergeschoben worden und die Schwangerschaft der Kaiserin wäre nur vorgetäuscht gewesen.
»Der Kaiser und seine Männer haben Euren Fluch verdient«, sagte Judith leise, »aber ist das Kind nicht unschuldig?«
»Das war ich auch.« Salvaggias Stimme blieb hart. »Ich sage Euch, wenn ich das Kind vor mir hätte, ich würde es in die Bucht werfen und zuschauen, wie es ertrinkt. Dann würde der Kaiser leiden, wie ich es tat. Vielleicht. Bedauert Ihr jetzt, dass Ihr eingewilligt habt, mir zu helfen?«
Sie war etwas jünger als Judith, puppenhafter mit ihrem herzförmigen Gesicht, dem vollen Mund und den großen dunklen Augen. Doch in diesem Moment hätte sie eine alte Frau sein können, bitter wie ein Grab.
»Nein«, sagte Judith, »nein. Ich werde Euch immer helfen, Euch und jedem, der verletzt worden ist, auch wenn Ihr ein Kind ins Meer schleudern könntet. Aber ich würde es herausholen.«
»Das sagt Ihr jetzt. Wartet ab, bis es Euch selbst geschieht«, gab Salvaggia zurück. Dann brach sie in Tränen aus. Judith wusste sich keinen weiteren Rat, als sie in die Arme zu nehmen und hin und her zu wiegen, so wie es ihre tote Mutter bei ihr getan hatte, als es um nichts Schlimmeres als neue Zähne oder wunde Zehen ging.
Vier Wochen lang besuchte Salvaggia sie jeden Tag. Judith massierte sie, braute Kräutertränke und hörte ihr zu, während das Mädchen in Zornattacken oder Tränen ausbrach. Am Tag nach der Hochzeit war es Judith, die Salvaggia besuchte, in ihrem neuen Heim, einem der wenigen Häuser, das nicht völlig zerstört worden war. Ihr Gatte war überglücklich. Salvaggia strahlte nicht, doch als sie Judith umarmte, flüsterte sie ihr ins Ohr: »Ihr habt mein Leben gerettet.«
Was genau Salvaggia den Frauen ihres Bekanntenkreises erzählte, wusste Judith nicht,
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