Das Spiel der Nachtigall
nach hinten, und er stürzte zu Boden, noch ehe sie ihm zur Seite springen und ihn auffangen konnte.
Judith tat alles, was sie gelernt hatte. Sie massierte sein Herz. Sie gab ihm ihren Atem, so wie er ihr Leben geschenkt hatte. Sie betete zu Gott dem Allmächtigen in der Sprache seines Volkes, dem Hebräisch, das sie schlechter beherrschte als das Latein, das Griechisch und Arabisch ihrer Medizinbücher. Aber sie konnte keinen Puls mehr fühlen. Die Hand ihres Vaters erkaltete in der ihren, während sie stumm auf der Erde saß, sein Haupt in ihren Schoß gebettet, blicklos auf die Bucht von Salerno starrend.
Weder Lucia noch Giovanni waren Juden, doch sie halfen Judith, ihren Vater zu Hause aufzubahren, wie es sich gehörte, mit den Füßen zur Tür gerichtet, zu der er hinausgetragen werden sollte, den Kopf mit einem Tuch um Kinn und Schläfen gebunden, den Körper mit einem schwarzen Tuch bedeckt, eine Kerze hinter seinem Kopf aufgestellt. Sie fragten sie nicht nach dem Riss in ihrem Kleid, den sie der Tradition folgend gemacht hatte, doch Lucia wollte wissen, warum Judith alles Wasser im Haus ausgoss.
»Es ist das Wasser, in dem der Todesengel sein Schwert gespült hat«, erklärte sie tonlos und tat, was sie ihren Vater so oft hatte tun sehen, bei ihrer Mutter und jedem ihrer Geschwister. Dann schickte sie Giovanni zu den Freunden ihres Vaters, auf dass sie ihr mit der Tahara halfen, der Reinigung des Leichnams. Mit Eleasar kam sein Sohn Meir. Es wurde ihr bewusst, dass er wohl einen weiteren Grund dafür hatte, doch er sprach sie dankenswerterweise nicht darauf an, sondern nahm nur den Kittel entgegen, den ihr Vater zum ersten Mal als Bräutigam getragen hatte, zum Neujahrs- und Versöhnungsfest und an jedem Sabbatabend. Er hatte Josef von Köln nach Salerno begleitet und würde nun das letzte Gewand sein, in das ihn seine Freunde nach der Waschung kleideten.
Es war nicht üblich, in der Zeit bis zur Beerdigung zu beten, jemanden zu grüßen oder irgendeine Art von gesellschaftlichem Umgang zu pflegen. Soweit es die dumpfe Betäubung zuließ, in der sie seit dem Moment schwamm, als ihr Vater zu atmen aufgehört hatte, war Judith froh darüber. Man ließ sie in Ruhe, während die Sonne sich senkte und die Nacht verging und sie versuchte, einen Sinn in dem zu finden, was geschehen war. Ein leichter Tod, hätte sie den Angehörigen eines Patienten gesagt. Manchmal kommt das so. Eine Blutung im Herz oder im Gehirn; kein Leiden. Er war ein alter Mann, er hat ein volles Leben gehabt. Doch andere waren nicht zum Heilen berufen, hatten nicht zu rechtfertigen, ihren Vater seines Heims beraubt und nach Salerno getrieben zu haben, weil sie davon träumten, Menschen zu retten. Wenn sie nur noch mehr gelernt hätte, besser wäre, dann hätte sie ihn vielleicht retten können. Er hätte noch nicht sterben müssen. Noch lange nicht. Was tat es, dass viele andere in seinem Alter schon tot waren? Er war ihr Vater. Er hätte die Langlebigkeit Abrahams verdient.
Die Beerdigung musste stattfinden, noch ehe die Sonne ein zweites Mal gesunken war, so war es Sitte. Es waren Eleasar und die anderen Männer, die Kaddisch für ihren Vater sprachen, denn ihr als Frau war es nicht erlaubt. Doch er hatte keine Blutsverwandten in diesem Land, und so war sie die Einzige, die in der Woche nach seinem Tod Schiwa für ihn saß. Lucia wollte ihr ein Tuch bringen, als Judith sich auf den Boden setzte, doch sie schüttelte den Kopf. »Man sitzt Schiwa auf der Erde«, sagte sie so sachlich, als erkläre sie, warum Tinkturen nicht weggeschüttet werden sollten. Die Betäubung war noch nicht gewichen, und sie war froh darum. Es war besser, alles aus weiter Ferne zu erleben, wie in Wolle gepackt. Dann war es noch nicht wirklich geschehen.
Meir ben Eleasar besuchte sie jeden Tag, denn es war Pflicht, Trauernde zu trösten, doch sie behielt Lucia stets bei sich, wenn er kam, und er sprach nie von anderen Dingen als den Tugenden ihres Vaters.
Als die Woche vorbei war, wusch sich Judith wieder mit warmem Wasser, welches Lucia auf der Feuerstelle erhitzt hatte, und zog ihre ledernen Schuhe an, um das Haus zu verlassen. Sie ging zu Francesca von Bologna, der Ärztin, die mit zwei weiteren ihre Prüfung abnehmen würde. Nachdem die ältere Frau ihr Mitgefühl zum Ausdruck gebracht hatte, meinte sie, man könnte die Prüfung natürlich verschieben, bis nach der Hochzeit.
»Hochzeit?«, fragte Judith ungläubig.
»Nun, unter den gegebenen Umständen
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