Das Spiel der Nachtigall
stimmte, nicht erzählen würde, wenn sie ihm die Wahrheit sagte. Stattdessen würde er versuchen, sie zu trösten, und sich in Höflichkeiten über einen Mann flüchten, den er überhaupt nicht gekannt hatte. Also nickte sie nur. In gewisser Hinsicht stimmte es sogar: Das, was von der irdischen Hülle ihres Vaters noch vorhanden war, lag in Salerno.
»Meine Magd ist die Einzige, die mit mir gekommen ist«, fügte sie hinzu, »denn unser Aufbruch geschah sehr überraschend. Ich konnte der Prinzessin behilflich sein, und Herr Diepold hatte es eilig. Das hat er noch immer. Ich glaube nicht, dass wir länger als zwei, drei Tage hier bleiben werden.«
»Dann habt Ihr wohl nicht vor, Euren Vetter hier in Wien zu besuchen?«, fragte Walther mit undeutbarer Miene.
»Selbstverständlich«, sagte sie, während etwas in ihrem Kopf begann, einen namenlosen Verdacht zu murmeln. »Schließlich habe ich ihn jahrelang nicht gesehen, ihn und seine Familie.«
Walther blieb im Schatten eines der neuen Häuser stehen, die nur aus Holzbalken anstatt aus Mauern zu bestehen schienen. »Es gibt keine gute Art und Weise, Euch dies zu erzählen, also will ich es erst gar nicht versuchen. Euer Vetter ist tot, und von seiner Familie sind nur die erwachsene Tochter und der jüngste Sohn noch am Leben.«
Im ersten Augenblick dachte sie, er erlaube sich einen grausamen Scherz mit ihr; das, was er da sagte, klang unmöglich. Vetter Salomon, der vorsichtige, nörgelnde Vetter Salomon, seine Gemahlin, sein ältester Sohn, die Tochter, die Judith Strümpfe und Beinlinge geliehen hatte …
»Welche Krankheit war es?«, stammelte sie und versuchte, nicht an das Sterben ihrer eigenen Familie in Köln zu denken, was wenigstens nicht in so kurzer Zeit geschehen war. Walther blieb stumm, und sie biss sich auf die Lippen.
»Verzeiht – natürlich könnt Ihr das nicht wissen. Ich bin überrascht, dass Ihr überhaupt vom Tode meines Vetters wisst, denn ich hatte nicht den Eindruck, dass Ihr miteinander bei Hofe zu tun hattet« sagte sie, um überhaupt etwas zu sagen, denn wenn sie schwieg, dann wurde das alles wirklich: Salomons Familie und Salomon selbst so tot wie ihre eigene, wie ihr Vater in Salerno, wie die Mutter und die Geschwister in Köln.
Seine Gesichtsmuskeln zuckten. Was auch immer an ihm fraß, war noch längst nicht heraus.
»Von Seuchen weiß ich wirklich nichts«, sagte er langsam.
»Lügt mich nicht an«, gab sie scharf zurück. »Ich bin eine Ärztin. Wir wissen, wann man uns anlügt.«
»Ich bin ein Verfasser von Unwahrheiten, und ich weiß, wann jemand die Wahrheit hören will. Glaubt mir, die Menschen bilden sich das vielleicht ein, doch sie wollen es nicht wirklich. Euer Vetter und die meisten der Seinen sind tot. Lasst es dabei bewandt sein. Und kehrt nicht wieder nach Wien zurück.«
Die Anmaßung in diesen Worten war so unerträglich wie das, was er vor ihr verbarg. Sie schlug ihm nicht wieder ins Gesicht, das nicht, doch sie packte seine Hand und presste seine Finger auf eine Art und Weise zusammen, die ihm Schmerzen bereiten musste.
»Maßt Euch nie wieder an, mir zu sagen, was ich hören will und was nicht. Mir ist es gleich, für wen Ihr sonst schöne Worte finden müsst, aber nicht für mich. Es gibt nichts, das ich von Euch wissen möchte, als die Wahrheit.«
Mit einem Ruck machte er sich los und packte sie bei den Schultern: »Man hat sie erschlagen, weil sie Juden waren!«, stieß er hervor. »War es das, was Ihr hören wolltet? War es das? Sind sie nun weniger tot, Magistra? «
Ich war noch ein Kind, flüsterte ihr Vater in ihrer Erinnerung, aber ich werde nie vergessen, was mit Simon dem Frommen in Köln geschehen ist, als sie wiederkehrten von ihrem Kreuzzug.
Erst, als sie ihre eigene Stimme hörte, wurde ihr bewusst, dass sie die Lippen bewegte. »Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig.«
Der Mann, der ihr ins Gesicht starrte, war ein Fremder, dem sie erst einmal begegnet war. Er war ein Christ. Er kannte die Sprache nicht, in der sie sprach, in der nur die Gebete gesprochen wurden, weil sie zu heilig für den Alltag war. Es gab nichts, das sie teilten. Aber solange er hier war, konnte sie nicht weitersprechen, sie konnte nicht »Gelobt der Name der Ehre, seine Herrschaft für immer und ewig« flüstern.
»Lasst mich los!«
»Ich wusste, dass Ihr –«
»Nein«, sagte sie bitter, »nein! Ihr habt Eure bequeme Lüge nicht für mich aufrechterhalten wollen. Ihr habt es für Euch
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