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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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erzürnt erklärt, »doch hier irrt er. Verkleidung für eine kurze Zeit mag angehen, doch ein Abtrünniger ist ein Abtrünniger! Wir haben kein Land mehr, wir haben nichts als das Buch, um uns zusammenzuhalten. Wer uns im Stich lässt, um ein leichteres Leben führen zu können, der ist es nicht länger wert, ein Sohn Abrahams zu sein.«
    Der Bruder ihrer Mutter war Christ geworden und nicht nur zum Kaufmann, sondern auch zum besten Freund des Münzmeisters von Köln aufgestiegen, doch es war Judith und ihren Geschwistern stets verboten gewesen, ihn zu besuchen oder auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln, wenn er versuchte, seine Schwester zu sehen, was ihr Vater ihrer Mutter strikt untersagt hatte. Selbst der Tod von Judiths Mutter hatte diesbezüglich keinen Unterschied gemacht. Judiths ältester Bruder hatte deswegen mit ihrem Vater gestritten, so laut, dass man es durch das ganze Haus hörte. »Auch du behandelst Christen. Du brichst das Brot mit Christen. Du korrespondierst mit Christen und erzählst uns immer mit Tränen in den Augen, wie wundervoll es doch in Salerno war mit all den christlichen und muslimischen Ärzten.«
    »Keiner von ihnen«, hatte ihr Vater eisern erklärt, »war ein Abtrünniger. Sie sind in ihrem Glauben geboren worden, wie ich in dem meinen.«
    Sie war keine Abtrünnige, sagte Judith sich. Sie betete im Stillen, und sie nahm nicht die Hostie der Christen, was anging, weil Irene erst nach ihrer Ehe mit Philipp von der oströmischen zur weströmischen Kirche übertreten würde und glaubte, Judith täte deswegen ihre griechischen Gebete nicht mitsprechen, weil sie nicht die ihren waren.
    Aber es würde guttun, wieder gesäuertes Brot zu essen, in Wein getunkt, es würde guttun, einen anderen Mund als den ihren Hebräisch sprechen zu hören. Sie dachte an Salomons Familie und daran, wie stolz er erzählt hatte, dass die neue Synagoge auch mit seinem Geld erbaut worden war.
    »Magistra, was ist Euch?«, fragte Irene ein wenig ungeduldig. »Ich hatte Euch gebeten, mir noch etwas von Eurer Melisse für mein Bad zu verschaffen. Wenn ich ein Gastmahl mit diesem Herzog durchstehen muss, der behauptet, mit mir verwandt zu sein, dann will ich nicht mehr jeden einzelnen Knochen in meinem Leib spüren. Man soll mir Wasser mit Kräutern heiß machen.«
    »Euer Gnaden«, sagte Judith mit einem rasch gefassten Entschluss, »die Melisse habe ich noch, doch dann muss ich meinen Vorrat an Heilkräutern erneuern. Wer weiß, wann wir das nächste Mal die Gelegenheit dazu finden. Im Übrigen habe ich Verwandte hier, so dass ich Euch bitten möchte, mich für ein paar Stunden zu entschuldigen.« Jetzt schon um die nächsten zwei Tage zu bitten, war vielleicht voreilig; am Ende war Vetter Salomon gar nicht mehr willens, sie ohne ihren Vater zu empfangen, vor allem, wenn er herausfand, dass die Magistra Jutta von Köln für eine Christin gehalten wurde. Aber nein, so war er nicht; er diente selbst einem christlichen Herrn, und bei aller Missbilligung vor zwei Jahren war er doch stets nur aus verwandtschaftlicher Zuneigung besorgt gewesen. Zweifellos würde er ihr alle möglichen Ratschläge erteilen, Vorschriften sogar, doch er würde es von Herzen gut meinen. Sie nahm sich vor, geduldig zu sein.
    Da sie ihre Kräutervorräte tatsächlich erneuern musste, erkundigte sie sich beim Haushofmeister, der sie nicht erkannte, und erfuhr, dass der Medicus des Herzogs seine Kräuter aus dem Kloster der Zisterzienserinnen bezog. Sie wollte gerade fragen, wie sie auf dem schnellsten Weg dorthin gelange, als der Haushofmeister hinter ihr jemanden sah, auf den er offenbar gewartet hatte: »Da seid Ihr ja endlich, Herr Walther! Ich muss jetzt wirklich wissen, wie viele Lieder Ihr vortragen werdet, wenn das Fest heute Abend gelingen soll! Haben wir noch Zeit für das Singspiel der sieben Kardinaltugenden, oder nicht?«
    »Mehr als eines und weniger als alle«, entgegnete eine Stimme, die ein wenig rauher klang als in ihrer Erinnerung, »und wenn Ihr mich fragt, sollte das Singspiel von den sieben Todsünden handeln. Schließlich will eine Braut wissen, was ihr alles entgeht.«
    Es war eigenartig: Sie war ihm nur einmal begegnet, und das lag Jahre zurück, aber der Klang seiner Stimme löste trotzdem ein Echo in ihr aus, ein wenig, als stünde sie neben einer Glocke, die geschlagen wurde, als glitten die Wellen des Schalls über ihren Körper. Zweifellos musste das ein medizinisches Phänomen sein.
    »Was ihr entgeht? Ein Leben

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