Das Spiel der Nachtigall
ohne Schnarchen, das einen nachts wach hält, kein Zahnverlust durch Schwangerschaften und keine vorzeitig ergrauten Haare, die ihr der Gatte verschafft«, sagte Judith und drehte sich um, lächelnd, um ihm zu zeigen, dass sie sich über das Wiedersehen freue. Sie erwartete eine schlagfertige Bemerkung, vielleicht sogar eine unverschämte. Was sie nicht erwartete, war, dass er aussah, als hätte er nächtelang nicht geschlafen: Die Haut war fahl, seine grünen Augen blutunterlaufen, und sein Haar sollte auch dringend gewaschen werden. Außerdem starrte er sie an, als sei er einem Geist begegnet.
»Jutta von Köln«, sagte sie, als er sie nicht begrüßte. Sie wäre weniger enttäuscht gewesen, wenn er sie wie der Haushofmeister nicht erkannt und den Tag längst vergessen hätte, was immerhin möglich war, doch dann würde er sie jetzt nicht so entgeistert anschauen. »Ich habe meine Ausbildung in Salerno beendet und bin derzeit die Ärztin der Prinzessin Irene, wenigstens bis zu ihrer Hochzeit.«
Ein Echo seines alten Lächelns kehrte auf sein Gesicht zurück, doch es war wie eine Maske, die er sich aufsetzte, ganz so, wie es die Menschen in Salerno im Februar während der Fastnachtstage taten. Auch sein neckender Tonfall war ein wenig zu aufgesetzt, um ehrlich zu sein.
»Aber einem Einhorn seid Ihr immer noch nicht begegnet, Frau … Jutta? « Offenbar erinnerte er sich an ihren richtigen Namen und an ihr Streitgespräch. Eigentlich wäre es besser gewesen, so zu tun, als wisse sie nicht, wovon er redete. Schließlich gab es keinen Grund, warum sie sich an den genauen Wortlaut einer Unterredung, die so lange zurücklag, erinnern sollte. Andererseits hatte er dabei die Schule von Salerno heruntergesetzt, und so etwas merkte man sich eben als Ärztin.
»Wenn Ihr Menschen nicht glaubt, wenn sie Euch die Wahrheit erzählen, wie wollt Ihr dann je imstande sein, Lügen zu erkennen, Herr Walther?«, fragte sie zurück.
»Nun, ich weiß, was er ganz gewiss nicht erkennen kann, und das ist eine einfache Frage«, mischte sich der Haushofmeister säuerlich ein. »Wie viele Lieder genau werdet Ihr singen, Herr Walther? Es wird sechs Gänge geben! Ich muss wissen, wer wann was darbieten wird.«
»Drei Lieder«, sagte Walther abrupt. »Eines für die Vergangenheit, eines für die Gegenwart und eines für die Zukunft. Für den Rest habt Ihr die Musikanten und Herrn Reinmar.«
»Wenn er denn kommt. Er hat sich erkältet, und seine Stimme ist zu heiser und unschön, um der Fürstin aus Byzanz zu gefallen, so ließ er durch seinen Knappen ausrichten.«
»Nun, vielleicht kann ich helfen, ich bin Ärztin«, sagte Judith.
Walther überraschte sie damit, dass er ihr Handgelenk ergriff. Seine Finger waren sehr warm, als hätte er selbst Fieber. »Nein«, sagte er. »Auf gar keinen Fall.«
Er klang so drängend, dass sie entschied, sein merkwürdiges Verhalten müsse andere Ursachen als das unerwartete Wiedersehen haben.
»Ihr solltet dem armen Herrn Reinmar wirklich nicht so zusetzen, Herr Walther«, erklärte der Haushofmeister missbilligend, »und ihm seinen Platz an der Sonne noch ein Weilchen gönnen. Müsst Ihr denn unbedingt der Einzige sein, dem die edlen Herren und Damen gewogen sind?«
»Nein, aber wenn die Magistra sich bei ihm ansteckt, dann wird sie wohl auch die zukünftige Schwägerin des Kaisers krank machen, und ihre Herrin wird Wien in der allerschlechtesten Erinnerung behalten. Glaubt mir, das wird dem Herzog nicht gefallen.«
»Nun ja …«, begann der Haushofmeister und verstummte.
»Herr Walther«, sagte Judith, die mittlerweile der Überzeugung war, dass sie nicht erfahren würde, warum sich der Sänger so merkwürdig verhielt, bis sie den Haushofmeister los war, »ich bin auf dem Weg ins Zisterzienserinnen-Kloster. Für meine Magd und mich ist diese Stadt hier fremd, und männlicher Geleitschutz wäre willkommen.« Sie hatte Lucia bei der Prinzessin gelassen, doch sie wollte nicht, dass der Haushofmeister merkte, dass sie mit Walther allein sein wollte.
»Es wird mir eine Freude sein.« Wenn sein Gesicht nicht dem eines Patienten geähnelt hätte, der vorgab, es ginge ihm blendend, während sich gleichzeitig riesige gefräßige Würmer in seinem Magen befanden, hätte sie ihm geglaubt.
Sie waren noch nicht weit von der Residenz entfernt, als er sich nach ihrem Vater erkundigte und wissen wollte, ob dieser in Salerno geblieben sei. Mit einem Mal war sie gewiss, dass er ihr das, was bei ihm nicht
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