Das Spiel des Schicksals
sie kam, desto stärker wurde das Kribbeln auf ihrer Handfläche. Zögernd streckte sie den Finger aus und fuhr damit die Linien des Rades nach. Vier Speichen und ein Kreis. Als sie den Kreis einmal zur Gänze umrundet hatte, zog sie schnell die Hand weg, als ob sie sich verbrannt hätte, denn der Stempelabdruck auf ihrer Hand war nun zu einem silbrig leuchtenden Mal geworden. Instinktiv streckte sie die Hand aus. Und dann, so schnell, dass sie nicht einmal Zeit hatte, zu schreien, fing der Kreis auf ihrer Haut an zu pochen, erhob und verdickte sich und wurde zu einer runden Metallscheibe.
Das Metall war ihr fremd – schwer, glänzend und schwarz –, aber trotzdem erkannte sie es. Es war dasselbe
Metall, aus dem die Münze gemacht war, die sie zusammen mit der Einladung ins Temple House in ihrer Jackentasche gefunden und dem Türsteher gegeben hatte. Diese Münze war glatt gewesen, ohne jedes Motiv, aber auf der Münze, die in ihrer Hand lag, prangte das Zeichen eines Schwertes.
Cat wusste, dass sie vermutlich die Nerven verlieren würde, wenn sie jetzt zögerte – vielleicht sogar unwiderruflich. Und so schleuderte sie die Münze hoch in die Luft, noch ehe sie Zeit hatte, zu denken, zu zweifeln oder zu bereuen.
Obwohl sie die Münze ungeschickt geworfen hatte, landete sie dennoch wieder in ihrer Handfläche. Das Rad dort brannte unter dem Metall – und im Bruchteil einer Sekunde verschmolzen Fleisch und Metall zu einer Einheit. Im nächsten Moment war ihre Hand wieder leer und makellos. Sie schaute auf. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und ihr wurde schwindelig: Die Welt hatte sich verändert.
Es war eine Art Morgendämmerung, denn über ihr erhob sich ein schwacher Lichtschein. Nach der Winternacht, aus der sie getreten war, kam ihr die Luft weicher vor, frischer. Es war unheimlich still – kein Verkehr, keine Menschen, nicht einmal Vogelgesang. Sie hatte immer noch das Gefühl, im Herzen der Stadt zu stehen, aber ohne den nie versiegenden Geräuschpegel Londons, ohne die Energie, die von dem Hin und Her von Millionen von Menschen ausging.
Ihre Umgebung unterschied sich kaum von der, die sie
zurückgelassen hatte. Selbst die Ladenfassaden waren die gleichen, obwohl auf den Schildern nichts geschrieben stand und die Schaufenster leer oder verbarrikadiert waren. Und doch … Ihre Mutter hatte ein kleines bronzenes Kaleidoskop besessen, das jetzt Cat gehörte. Als Kind war sie fasziniert gewesen von der Art, wie die sich verändernden Glaskugeln mit jeder Drehung des Rades unendlich viele, immer neue Muster bildeten. Wenn sie diese andere Stadt betrachtete, kam es ihr so vor, als hätte man ein Kaleidoskop ein klitzekleines Stück weit verdreht – das Muster war fast unmerklich verändert und doch völlig anders. Wie die Säule: In Cats gewohnter Welt war der Stein von einem hellen und irgendwie schmutzigen Grau, hier bestand die Säule aus schwarzem Marmor, und das Zifferblatt war nicht zwölf-, sondern nur viergeteilt. Aber das eingeritzte Rad war noch da, und als sie mit zitternder Hand die Linien wieder nachfuhr, verriet ihr das Brennen auf ihrer Handfläche, dass die schwarze Münze bereit war, sich wieder zu formen und sie nach Hause zu bringen.
Cat zog die Hand weg, ehe sie den Kreis vollendet hatte und sich die silberfarbene Narbe auf ihrer Haut in Metall verwandeln konnte. Dann presste sie die Zähne zusammen, hob das Kinn und trat weg von der Säule in den kühlen Sommermorgen des Arkanums.
In diesem Moment merkte sie, dass sie nicht allein war. Unter einer Laterne, etwa zehn Meter entfernt, stand eine Frau, aß einen Schokoriegel und betrachtete Cat mit schmalen Augen. Sie hatte ein kluges, aber abweisendes
Gesicht und trug ein dunkelblaues Kostüm und Turnschuhe, wie eine Büroangestellte auf dem Heimweg von der Arbeit.
Jetzt warf sie das Schokoladenpapier auf den Boden und kam auf Cat zu. »Was bist du?«, fragte sie herausfordernd.
»Ähm, ich …« Wie hatte Toby das genannt? »Ich bin ein Joker.«
Bei diesen Worten weiteten sich die Augen der Frau, und sie stieß ein bellendes Gelächter aus. »So, so«, sagte sie, »das ist ja mal was Neues.«
»Und was sind Sie?«
»Eine Ritterin der Schwerter natürlich. Das hättest du anhand des Zeichens auf deiner Münze auch selbst wissen können.«
Also katapultierte sie die Münze nicht nur ins Arkanum; sie sagte ihr auch, welcher der vier Höfe hier einen Spielzug ausführte. »Ich verstehe. Also sind Sie … haben Sie, ähm, ich meine,
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