Das Spiel des Schicksals
haben Sie eine von diesen Karten?«
Die Frau starrte sie an, als ob sie nicht ganz richtig im Kopf wäre. »Wie hätte ich sonst wohl hierherkommen sollen ? Die Karten werden an uns Ritter verteilt, also sind wir die Spieler, für die das Arkanum seine Schwellen bereithält. Meine Karte, mein Spiel hat diesen Zug möglich gemacht. Du bist nur ein Zuschauer. Einer von den kleinen Zufällen des Spiels.«
Cat ignorierte ihr abfälliges Schnauben. »Gefällt es Ihnen ?«, fragte sie neugierig. »Das Spiel, meine ich.«
Die Ritterin der Schwerter antwortete zunächst nicht,
sondern starrte mit einem abwesenden Blick in den Himmel. »Es gibt hier Wunder«, sagte sie schließlich. »Dinge, von denen die meisten Menschen nur träumen können: Engel und Dämonen, Blut und Herrlichkeit … So viele Wunder, so viele Gefahren, und ich habe jedes Mal gesiegt. Die Wahrheit ist«, fügte sie in vertraulichem Ton hinzu, »dass ich eine Glückssträhne habe.« Sie steckte die Hand in ihre Jackentasche und zog eine Karte heraus. »Die letzte Karte, ehe ich meine Runde beenden kann und den Trumpf gewinne. Die Karten bleiben leer, bis man über die Schwelle die Seiten wechselt. Aber schau sie dir jetzt mal an.«
Cat zuckte zurück. Die Sache mit den Engeln und Dämonen gefiel ihr nicht, genauso wenig wie der Gedanke an Blut und Herrlichkeit.
»Du musst keine Angst haben, Mädchen – es ist eine der besten Karten im Spiel: die Sechs der Kelche, die Herrschaft des Vergangenen Vergnügens.«
Zögernd nahm Cat die Karte. Es schien ein schwaches Glühen von ihr auszugehen, aber vielleicht war es auch nur das nebelverschleierte Morgenlicht, das sich seinen Weg durch die Straßen bahnte. Und das Bild darauf sah einladend aus: Zwei spielende Kinder im Garten eines prächtigen Herrenhauses. Sie lächelten und waren umgeben von juwelenbesetzten Kelchen, aus denen Blumen quollen. Die Mauern des Hauses im Hintergrund waren hoch und golden, der Himmel erstrahlte in einem intensiven Blau. Als Cat die Szene betrachtete, rührten sich Erinnerungen an ein verlorenes und fast vergessenes
Glück. Sie merkte, dass sie die Karte nur ungern zurückgab.
»Wunderschön, nicht wahr?«, sagte die Ritterin und schaute hinauf zur Sonnenuhr. »Und jetzt ist es Zeit.«
»Zeit …?«
»Um mein Spiel zu machen und meine Chance zu nutzen. Wie wir alle es tun müssen.« Sie nickte Cat kurz zu und ging dann die Straße entlang zu einer Tür, die Cat vorher nicht aufgefallen war. Auf der anderen Seite der Schwelle gab es diese Tür gewiss nicht. Sie bestand aus uraltem, geschwärztem Holz und befand sich in einem schmalen Mauerstück zwischen zwei leeren Schaufenstern. Sie sah aus, als sei sie seit Jahren nicht geöffnet worden. Und doch schwang sie auf eine leichte Berührung der Schwert-Ritterin auf. Eine Sekunde später war die Frau verschwunden.
Der Ort kam ihr jetzt noch stiller und verlassener vor. Cat schaute zurück zur Sonnenuhr, dachte dann aber, dass es wohl ziemlich lahm wäre, wenn sie jetzt heimkehren würde, ohne irgendetwas gesehen oder unternommen zu haben. Ihre Angst war verflogen; aus irgendeinem Grund hatte ihr der Anblick der Karte ein Gefühl des Friedens geschenkt, die Hoffnung auf bessere Zeiten, auf Glück, vielleicht schon hinter der nächsten Ecke. Und die Tür stand einen Spalt offen.
Das Holz fühlte sich warm an, als ob es stundenlang von der Sonne beschienen worden wäre. Hinter der Tür konnte sie Kinderlachen hören, hell und klar, und ihre Kehle wurde eng vor einem namenlosen Verlangen. Die
Herrschaft des Vergangenen Vergnügens … Sie stieß die Tür auf und trat hindurch.
Es war, als ob sie direkt in die Karte hineingelaufen wäre. Sie stand auf einem weichen Rasen, eingerahmt von hohen goldenen Wänden. Überall blühten pastellfarbene Blumen. Ihr Duft war so intensiv, dass sie ihn fast schmecken konnte. Vor ihr befand sich die Fassade eines großen und zeitlosen Hauses, erbaut aus honigfarbenem Stein. Die Fenster glitzerten, aber dort, wo der Rest des Gartens sich hätte widerspiegeln sollen, war nur das strahlende Blau des Himmels zu sehen.
Es war wunderschön. Es war der herrlichste Ort, den Cat jemals gesehen hatte. Es war sogar noch besser als damals, vor Jahren, als sie auf einem Schulausflug eins dieser großartigen Herrenhäuser besucht hatte, das von einem riesigen Park umgeben war, einschließlich eines Rosengartens von der Größe eines Tennisplatzes. Aber trotzdem konnte sie den atemberaubenden Anblick nicht
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