Das Spiel des Schicksals
brandete auf, begleitet von beifälligem Gemurmel
und Ahs und Ohs. Die Gäste strömten dem Haus zu. Flora war eine der Ersten, die die Tür erreichten.
»Komm«, sagte Toby.
»Ich will mir das nicht ansehen«, erwiderte Cat.
»Warum nicht? Niemand macht irgendetwas anderes, während die Lotterie im Gange ist. Das Spiel ist in dieser Zeit unterbrochen; so sind die Regeln. Und außerdem ist es aufregend.«
»Genauso aufregend wie die Gladiatorenkämpfe bei den alten Römern.« Jetzt, da sie wusste, was auf dem Spiel stand, wurde ihr bei dem Gedanken an den Anblick eines bei der Drehung des Rades vor Angst schwitzenden Ritters übel. »Behalte Flora im Auge. Ich warte in der Nähe der Treppe, und wir können sie in die Zange nehmen, wenn sie rauskommt.«
Toby brauchte keine zweite Aufforderung. Mit schnellen Schritten eilte er die Stufen hinauf, den anderen hinterher. Cat ging langsamer. Im ersten Stock blieb sie stehen und sah, wie die schwarz-goldenen Türen hinter den letzten Zuschauern zuschwangen.
Kein Laut drang durch die Türen, nachdem sie geschlossen worden waren. Cat fühlte sich unbehaglich, allein in der menschenleeren Halle, wie ein Eindringling. Oder wie jemand, der schwänzte. Sie entschied, dass sie wohl genug Zeit hatte, um sich ein wenig umzuschauen, und rüttelte an der Tür zur Galerie, wo sie hoffte, einen zweiten Blick auf das Gemälde mit dem Rad und seiner dunklen Herrin werfen zu können. Aber die Tür war abgeschlossen. Und so schlenderte sie stattdessen in
die Bibliothek, wo die Wände von hohen Bücherregalen gesäumt waren.
Im Kamin loderte ein kleines Feuer, und ein schwacher, nicht unangenehmer Duft nach Zigarrenrauch lag in der Luft. Auf einem Tisch neben einer Kanne mit noch warmem Kaffee stand ein Schachbrett, die Figuren mitten im Spiel erstarrt. Cat schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und betrachtete dann die Regale. Vielleicht wurden hier die Geheimnisse des Arkanums aufbewahrt. Aber die Sammlung schien keiner Ordnung unterworfen zu sein. Zerfledderte Taschenbücher, zumeist Krimis, waren achtlos zwischen ledergebundene und mit Goldlettern bedruckte Wälzer geschoben. Ein schmales Büchlein mit dem Titel Pik-Dame sah vielversprechend aus, erwies sich aber als langweiliger Roman über russische Aristokraten. Das wüste Land, ein Gedichtband, stand neben einer Erstausgabe von Alice im Wunderland. Dann folgten zwei lateinische Texte – De Casibus Virorum Illustrium und De Consolatio Philosophiae. Cat gähnte und blätterte durch die Spielanleitung für Bridge und Canasta.
Ein plötzliches Klappern und Plappern von draußen schreckte sie auf. Die Lotterie war schneller vorbei, als sie gedacht hatte. Sie eilte in die Halle und kam gleichzeitig mit Toby dort an. Sein Gesicht hellte sich auf, als er sie sah, und er deutete dorthin, wo Floras Blondschopf ganz oben auf der Treppe inmitten der Menschenmenge zu sehen war. Der Abstieg nach unten ging langsam vonstatten, und ihre Beute war ihnen nur wenige Schritte voraus. Aber als die Leute den Fuß der Treppe erreichten,
beschleunigte sich der Fluss aus Menschen und löste sich in Richtung der einzelnen Zimmer und des Parks auf. Cat und Toby steckten noch immer auf der Treppe fest, als Flora die letzte Stufe hinunterging, um die Ecke bog und unter der Treppe verschwand. Cat fing an zu drängeln und zog Toby hinter sich her. »Mach schon«, sagte sie ungeduldig. »Wir dürfen sie nicht verlieren.«
Flora war durch eine schmale, weiß gestrichene Tür gegangen, die Cat vorher nicht aufgefallen war. Der Korridor, der hinter der Tür lag, wirkte schäbig und ungepflegt. Er führte in den hinteren Bereich des Hauses und schließlich hinaus auf einen gepflasterten Innenhof, der von hohen Mauern eingefasst war. Der altmodische Spielautomat, der in der Mitte des Hofs stand, wirkte völlig fehl am Platz. Flora war nirgends zu sehen.
»Das glaube ich einfach nicht! Ich hätte schwören können, dass sie hier entlanggegangen ist! «
Toby schaute sich nervös um. »Ist sie auch. Ähm, ich glaube, sie ist ins Arkanum eingetreten.«
»Aber wir sind doch schon …«
»Ich meine, sie hat Temple House verlassen und ist ins Spiel eingetreten.« Er deutete auf eine Tür am anderen Ende des Hofs. »Ich weiß nicht, wohin diese Tür führt. Aber wenn Flora einfach nur hätte heimgehen wollen, hätte sie wohl die Vordertür genommen.«
Ein fliederfarbenes Glühen hing über dem Dach hinter ihnen, und Cat konnte von irgendwoher aus den Tiefen des
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