Das Spiel
an. »Es ist ein Notfall.«
»Hinten rechts«, erwidert sie. Ich bin ihr sichtlich unheimlich.
Ohne anzuhalten, stürme ich an der Bar vorbei nach hinten. Ich denke gar nicht daran, zu den Toiletten zu laufen. Statt dessen fege ich durch die Schwingtüren der Küche, drücke mich an dem Küchenchef vorbei, der an der Friteuse steht, ducke mich unter dem mit Hamburgern beladenen Tablett eines Kellners hindurch, stoße die Hintertür auf und stehe in der Gasse hinter dem Restaurant. Seit über einem Jahrzehnt esse ich hier einmal in der Woche. Ich weiß genau, wo die Waschräume sind. Wenn ich Glück habe, schickt die Kellnerin meinen Verfolger geradewegs nach hinten aufs Klo.
Ich laufe durch die Gasse und lasse die Tür vom Bullfeathers nicht aus den Augen. Nichts rührt sich. Selbst er ist nicht so clever ...
Die Tür fliegt auf, und der Mann stürmt heraus.
Einen Moment bleiben wir wie angewurzelt stehen. Er schüttelt beinahe mitleidig den Kopf und zieht seine Windjacke zurecht. Plötzlich höre ich das Klimpern von Schlüsseln. Hinter mir schließt ein Zwanzigjähriger mit einem Kopfhörer auf den Ohren die Tür zu seinem Wohnhaus auf.
Triefauge stürzt sich auf mich, während ich auf den Jungen zu springe.
»Entschuldige, tut mir leid!« Ich trete ihm in den Weg, dränge mich in das Gebäude, reiße ihm den Schlüssel aus der Hand und nehme sie mit hinein.
»Armleuchter!« schreit der Junge.
Ich nicke entschuldigend und schlage die dicke Metalltür zu. Er bleibt mit Triefauge draußen. Ich bin allein drinnen. Ich kann hören, wie sich mein Verfolger mit der Schulter gegen die Tür wirft. Sie wird ihn nicht lange aufhalten.
Hinter mir befindet sich eine große graue Treppe. Ich habe zwei Möglichkeiten. Nach oben oder nach unten. Ich schaue durch das Geländer hinauf. Oben liegen die Eingangshalle und die oberen Stockwerke. Die Treppe nach unten endet an einem Fahrradständer. Die Logik sagt mir, lauf nach oben. Es ist der einzige Weg, rauszukommen, und was noch wichtiger ist: Meine Instinkte befehlen mir, nach oben zu flüchten. Genau deshalb gehe ich nach unten. Verrückte Logik. Doch dieser verdammte Psychopath war lange genug in meinem Kopf.
Ich springe die Stufen der Sackgasse hinunter. Unten stehen zwei leere Eimer und sieben Fahrräder. Ich bin leider nicht MacGyver und kann nichts davon zu einer Waffe umfunktionieren. Ich hechte hinter das Metallgeländer des Fahrradständers und kauere mich zusammen. Von meinem Standort aus betrachtet, bin ich so gut versteckt, wie es geht.
Über mir knallt die Tür gegen die Zementwand. Triefauge stürmt in das Treppenhaus. Am Fuß der Treppe bleibt er stehen. Er hat nicht genug Zeit, um beide Wege zu überprüfen. Für uns beide zählt jede Sekunde.
Ich halte die Luft an und schließe die Augen. Seine Schuhe klacken auf dem Zementboden, als er einen Schritt vorwärts macht. Seine Windjacke raschelt. Mit den Fingernägeln tippt er ruhig auf dem Geländer. Er späht über den Rand.
Zwei Sekunden später ist er auf der Treppe ... und seine Schritte werden leiser. Irgendwo schlägt eine andere Metalltür gegen eine Wand. Dann herrscht Ruhe. Er ist weg.
Ich hebe den Kopf und ringe nach Luft. Kein Grund zur Freude. Meine Probleme haben gerade erst begonnen.
Ich versuche aufzustehen, aber mich schwindelt. Ich kann kaum mein Gleichgewicht halten. Ich sinke in die Ecke zurück, und meine Arme baumeln wie Gummibänder an meiner Seite herunter. Wie bei Pasternak und Matthew.
Meine Güte ...
Ich schließe die Augen und sehe die beiden vor mir. Matthews schüchternes Lächeln und seinen schlaksigen Gang ... und Pasternak, wie er immer den Knöchel an seinem Mittelfinger knacken ließ ...
Ich liege zusammengekauert da und kann nicht einmal den Kopf heben. Ich bin endlich da gelandet, wo ich hingehöre. Matthew hat mich immer auf ein Podest gestellt, Pasternak auch. Dabei war ich nie etwas Besonderes, und weniger Angst hatte ich auch nicht. Ich konnte sie nur besser verbergen.
Eines der Fahrräder ist ein Kinderfahrrad mit Stützrädern. Es erinnert mich an Pasternaks zweijährigen Sohn ...an seine Frau Carol ... an Matthews Eltern ... seine Brüder ... alles ist ruiniert...
Ich lecke mir die Oberlippe. Es schmeckt salzig. Erst jetzt bemerke ich, daß mir Tränen über das Gesicht laufen.
Es war ein Spiel, einfach nur ein albernes Spiel. Wie bei jedem Spiel konnte ein einziger dummer Zug es beenden und allen vergegenwärtigen, wie verletzlich Menschen sind. Was
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