Das Spiel
knapp neun Uhr abends Ortszeit, aber während unsere Scheinwerfer wie Finger die Dunkelheit durchbohren, ist keine Menschenseele zu sehen.
»Bist du sicher, daß dies der richtige Weg ist?« fragt Viv, als ich einem Schild mit dem Hinweis Highway 85 folge.
»Ich versuche mein Bestes«, erwidere ich. Als die Straße sich zu zwei Spuren verengt, werfe ich ihr einen kurzen Blick zu. Sie kreuzt ihre Arme nicht mehr, sondern umklammert den Sicherheitsgurt vor ihrer Brust, als hänge ihr Leben davon ab.
»Sind wir richtig?« wiederholt sie ängstlich. Zum ersten Mal seit fünf Stunden dreht sie sich zu mir um. Sie sitzt höher in dem Sitz als ich, und während sie mir die Frage stellt, glühen ihre untertassengroßen Augen förmlich in der Dunkelheit. In diesem Augenblick verwandelt sich die Jugendliche, die wütend auf mich war, weil ich sie in diese Sache mit hineingezogen habe, in das kleine Mädchen, das einfach nur Angst hat.
Mein siebzehnter Geburtstag liegt schon lange zurück, aber an eines erinnere ich mich noch: an das Bedürfnis nach Trost.
»Wir sind auf dem richtigen Weg«, antworte ich so zuversichtlich, wie ich kann. »Ungelogen.«
Sie lächelt schwach und schaut wieder aus dem Fenster. Ich weiß nicht, ob sie mir glaubt, aber in diesem Moment wird sie alles schlucken, was ich ihr vorsetze.
Vor uns macht die zweispurige Straße einen kurzen Schwenk. Erst als die Scheinwerfer die enormen Felswände beleuchten, die neben uns aufragen, wird mir klar, daß wir durch einen Canyon fahren. Viv beugt sich vor und verrenkt sich fast den Hals, als sie durch die Windschutzscheibe hinaufsieht. Anscheinend erregt etwas ihre Aufmerksamkeit, denn sie beugt sich noch weiter vor.
»Was ist los?« frage ich.
Sie antwortet nicht. So wie sie den Kopf gebogen hat, kann ich ihr Gesicht nicht erkennen, aber sie hält sich nicht mehr am Sicherheitsgurt fest, sondern stützt sich auf dem Armaturenbrett ab, während sie in den Himmel starrt.
»Oh ...«, flüstert sie schließlich.
Ich beuge mich vor gegen das Lenkrad und betrachte den Himmel. Ich sehe gar nichts.
»Was denn?« wiederhole ich. »Was ist da?«
»Sind das die Schwarzen Berge?«
Ich sehe genauer hin. Weit über uns steigen die Wände der Klippen dramatisch an, wenigstens einhundertfünfzig Meter steil in die Wolken. Würde nicht das Mondlicht die schwarzen Umrisse der Klippen scharf gegen den grauen Himmel abzeichnen, könnte ich nicht einmal sehen, wo sie enden.
Ich schaue zu Viv hinüber, die immer noch in den Himmel starrt. Ihr Mund steht offen, und sie hat die Augen weit aufgerissen. Ich hatte es für Angst gehalten, dabei ist es pures Erstaunen.
»Da, wo du herkommst, gibt es wohl keine Berge?« erkundige ich mich.
Sie schüttelt noch immer sprachlos den Kopf. Bestimmt renkt sie sich gleich den Kiefer aus. Als ich ihre ehrfürchtige Reaktion sehe, fällt mir noch jemand ein, der die Berge so bewundert hat. Sie waren das einzige, neben dem Matthew sich klein fühlte.
»Geht es dir gut?« fragt Viv.
Ich werde unsanft in die Realität zurückgeholt. Viv beobachtet mich. »Klar.« Ich konzentriere mich wieder auf die gelben Streifen mitten auf der kurvigen Straße.
Natürlich ist Viv viel zu schlau, um mir das abzukaufen. »Du bist überhaupt kein so guter Lügner, wie du annimmst.«
»Mir geht's gut.« Ich zögere. »Hier draußen hätte es Matthew gefallen.«
Viv beobachtet mich scharf und klopft jedes meiner Worte ab. Ich lasse die verwaschenen gelben Linien auf der Straße nicht aus den Augen. Mit verlegenem Schweigen kann ich umgehen. Es ähnelt der Dreißig-Sekunden-Pause, die entsteht, wenn ich den Senator über ein unangenehmes Thema informiert habe. Die Stille, in der Entscheidungen gefällt werden.
»Weiß du, ich habe dieses ... Foto in seinem Büro gesehen«, meint sie schließlich.
»Wovon redest du?«
»Matthew. Ich habe sein Foto gesehen.«
Ich starre auf die Straße und rufe es mir ins Gedächtnis. »Das mit ihm vor dem See?«
»Ja, das meine ich.« Sie nickt. »Er sah ... irgendwie nett aus.«
»Das war er auch.«
Sie dreht sich wieder zu der schwarzen Skyline herum. Ich bleibe bei den gewundenen gelben Streifen. Es ist wie bei dem Gespräch mit ihrer Mom. Nur dauert das Schweigen diesmal noch länger als vorher.
»Michigan«, flüstert sie schließlich.
»Wie bitte?«
»Du hast gesagt, sie haben keine Berge, wo ich herkomme. Da komme ich her. Aus
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