Das Spiel
versucht noch immer, sich aufzurappeln. Schade, daß ihr nächster Anruf es noch schwieriger macht.
Noch während das Telefon klingelt, bemerke ich die Veränderung in ihrer Haltung. Sie senkt den Kopf und duckt sich etwas. Ihre Zehen sind nach innen gerichtet, und mit einem Schuh streift sie an der Spitze des anderen lang. Sie umklammert den Hörer fest, sieht mich an und wendet sich dann ab. Ich kann erkennen, wann jemand um Hilfe ruft.
Ich drücke den Mithörknopf, als jemand am anderen Ende abnimmt. Viv sieht auf das rote Lämpchen neben dem Wort Lautsprecher. Diesmal schaltet sie ihn nicht ab.
»Arztpraxis«, antwortet eine Frauenstimme.
»Hi, Mom, ich bin's.« Viv versucht, ihre Stimme unbeschwert und aufgeregt klingen zu lassen. Ihr Tonfall ist perfekt, sogar besser als bei dem vorigen Anruf.
»Was ist los?« will ihre Mom wissen.
»Nichts ... Mir geht's großartig.« Viv stützt sich mit der linken Hand am Schreibtisch ab. Sie kann kaum aufrecht stehenbleiben. Vor zwei Minuten war sie siebzehn und ging auf Siebenundzwanzig zu. Jetzt ist sie nicht älter als dreizehn.
»Warum bin ich auf Lautsprecher geschaltet?« erkundigt sich Mom.
»Bist du nicht, Mom. Es ist mein Handy, das ...«
»Schalt den Lautsprecher aus. Du weißt, wie ich das hasse.«
Viv sieht mich an, und ich trete unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie drückt auf den Knopf, und der Lautsprecher verstummt. Zum Glück redet Mom so laut, daß ich sie durch den Telefonhörer verstehe.
Ich hatte Viv gesagt, daß sie diesen Anruf nicht machen dürfte. Jetzt müssen wir es doch tun. Falls Mom Alarm schlägt, kommen wir nicht weit.
»Schon besser«, meint Mom. »Also, was ist los?«
Ihre Stimme klingt besorgt. Sicher, Mom ist laut, aber nicht aus Ärger oder Herrschsucht. Senator Stevens hat denselben Tonfall. Er klingt nach Stärke.
»Sag mir, was passiert ist«, verlangt Mom. »Hat wieder jemand eine dumme Bemerkung gemacht?«
»Keiner hat eine dumme Bemerkung gemacht.«
»Was ist mit diesem Jungen aus Utah?«
Ich kann Moms Akzent nicht genau einordnen. Südliches Ohio vielleicht, doch wenn ich die Augen schließe und auf die Intonation achte, höre ich Viv in zwanzig Jahren. Ich schlage die Augen wieder auf und sehe, wie sie sich unter der Anspannung zusammenkrümmt. Bis dahin hat sie noch einen langen Weg vor sich.
»Was ist nun mit dem Junge aus Utah?« fragt ihre Mom nach.
»Der Junge ist ein Arsch ...«
»Vivian!«
»Mom, bitte, das ist kein Fluch. Bei jeder albernen Sitcom im Fernsehen sagen sie das.«
»Du lebst also in einer Sitcom, ja? Soll doch deine Sit-com-Mom deine Rechnungen bezahlen und deine Probleme lösen.«
»Ich habe keine Probleme. Es war ein Kommentar von einem Jungen ... Die Aufseher haben sich darum gekümmert. Es ist alles in Ordnung.«
»Laß dir nichts von ihnen gefallen, Vivian. Gott sagt...«
»Ich sagte, es geht mir gut!«
»Laß nicht zu, daß sie ...«
»Mom!«
Mom hält inne. So eine Pause bringt nur eine Mutter zustande. Man spürt, wie gern Mom die ganze Liebe, die sie für ihre Tochter empfindet, durch den Hörer schreien würde ... Nur weiß sie, daß Stärke nicht so einfach übertragbar ist. Man muß sie finden - in sich selbst.
»Erzähl mir etwas von diesen Senatoren«, meint Mom schließlich. »Haben sie dich schon gebeten, einen Gesetzentwurf zu verfassen?«
»Nein, Mom, ich hab noch keinen geschrieben.«
»Das wirst du schon noch tun.«
Es ist schwer zu erklären, aber irgendwie kaufe ich es ihr ab.
»Mom, ich rufe aus einem bestimmten Grund an. Sie bringen uns über Nacht nach Monticello. Thomas Jeffersons...«
»Ich weiß, was Monticello ist.«
»Schon gut. Ich wollte nur nicht, daß du dir Sorgen machst, wenn du anrufst und ich nicht da bin.« Viv verstummt und wartet, ob Mom den Köder schluckt. Wir halten beide die Luft an.
»Ich habe dir ja gesagt, daß du irgendwann dorthin kommst, Viv. Ich habe Fotos davon in einer alten Broschüre gesehen.« Mom ist hörbar aufgeregt. Damit ist die Sache erledigt.
»Ja, sie veranstalten das jedes Jahr«, fährt Viv fort. Sie klingt plötzlich traurig. Als wünschte sie, es wäre nicht so leicht. Sie schaut auf das Poster an der Wand. Wir alle müssen unseren eigenen Berg erklimmen.
»Wann kommst du zurück?«
»Ich glaube, morgen abend.« Viv schaut mich fragend an. Ich zucke mit den Schultern und nicke gleichzeitig. »Ja, morgen abend«, wiederholt sie.
»Vergiß nicht, nach Sally Hemings zu fragen ...«
»Keine Sorge,
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