Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
Aber nun müssen Sie mir von Ihrem Leben erzählen.«
»Noch nicht. Ich habe einen Gedanken, der Ihr Grauen lindern könnte. Ich habe eine Frage: Glauben Sie, dass Sie hier oben …« Franco zeigte auf seinen Kopf, »eine solche Wunde hätten, wenn der Attentäter nur irgendein Verrückter gewesen wäre und kein Jude mit einem besonderen Groll gegen Sie?«
Bento nickte: »Eine wirklich ausgezeichnete Frage.« Er lehnte sich an den Bettpfosten, schloss die Augen und dachte mehrere Minuten lang nach. »Ich glaube, ich verstehe, was Sie sagen wollen, und das ist wirklich sehr mitfühlend. Nein, ich bin sicher, dass die Wunde in meinem Kopf nicht so schmerzen würde, wenn er kein Jude wäre.«
»Ah«, sagte Franco, »und das bedeutet also …«
»Es muss bedeuten, dass es nicht nur meine Angst vor dem Tod ist. Sie hat eine zusätzliche Komponente, die mit meinem erzwungenen Exil von der jüdischen Welt verknüpft ist.«
»Das glaube ich auch. Wie sehr bekümmert Sie dieses Exil im Augenblick? Als wir zuletzt miteinander sprachen, drückten Sie nichts als Erleichterung darüber aus, dass Sie die abergläubische Welt verlassen konnten, und viel Freude angesichts der Aussicht, ein Leben in Freiheit zu führen.«
»Sie haben Recht. Und diese Erleichterung und Freude empfinde ich immer noch, aber nur in meinen wachen Stunden. Ich führe nun zwei Leben. Tagsüber bin ich ein neuer Mensch, der seine alte Haut abgestreift hat, der Latein und Griechisch liest und aufregende, freie Gedanken denkt. Doch während der Nacht bin ich Baruch, ein jüdischer Wanderer, der von meiner Mutter und meiner Schwester umsorgt wird, von den Älteren über den Talmud ausgefragt wird und der in den verkohlten Trümmern einer Synagoge herumstolpert. Je weiter ich mich vom hellwachen Bewusstsein entferne, desto mehr bewege ich mich zurück zu meinen Anfängen und klammere mich an diese Phantome meiner Kindheit. Und es mag Sie überraschen, Franco: Fast jede Nacht, wenn ich in diesem Bett liege und auf den Schlaf warte, kommen Sie mich besuchen.«
»Ich hoffe, ich bin ein guter Gast.«
»Ein viel besserer, als Sie sich überhaupt vorstellen können. Ich bitte Sie herein, weil Sie mir Beruhigung verschaffen. Und Sie sind heute ein guter Gast. Selbst während wir uns hier unterhalten, spüre ich, wie ataraxia wieder in mich hineinströmt. Und noch mehr als ataraxia – Sie helfen mir zu denken. Ihre Frage zu dem Attentäter – wie ich reagieren würde, wenn er kein Jude wäre – hilft mir, die Komplexität der Determinanten tatsächlich zu erfassen. Ich weiß, ich muss mich mehr mit Vorläufern befassen und Gedanken nicht vollkommen bewusst betrachten, nächtliche Gedanken wie auch die während des Tages. Dafür danke ich Ihnen.«
Franco strahlte über das ganze Gesicht und drückte Bentos Schulter.
»Und nun, Franco, müssen Sie mir aber von Ihrem Leben berichten.«
»Es hat sich viel ereignet, obwohl mein Leben weniger abenteuerlich ist als das Ihre. Meine Mutter und meine Schwester trafen einen Monat nach Ihrem Umzug hier ein, und mit Unterstützung der Synagoge fanden wir eine kleine Wohnung nicht weit von Ihrem Handelsgeschäft entfernt. Ich gehe oft vorbei und sehe Gabriel, der mir zunickt, aber nicht mit mir spricht. Ich glaube, er weiß wie alle anderen von meiner Rolle bei Ihrem Cherem . Er ist inzwischen verheiratet und lebt bei der Familie seiner Frau. Ich arbeite im Transportunternehmen meines Onkels und helfe ihm, seine ankommenden Schiffe zu inventarisieren. Ich lerne mit großem Eifer und gehe mehrmals die Woche mit anderen Immigranten zum Hebräischunterricht. Hebräisch zu lernen ist ermüdend, aber auch aufregend. Es tröstet mich und gibt mir eine Richtschnur in meinem Leben, ein Gefühl von Kontinuität mit meinem Vater und seinem Vater und dessen Vater über Hunderte von Jahren in die Vergangenheit zurück. Dieses Gefühl der Kontinuität wirkt ungemein stabilisierend.
Ihr Schwager Samuel ist mittlerweile Rabbiner und unterrichtet uns vier Mal die Woche. Andere Rabbiner und sogar Rabbi Mortera geben uns an den anderen Tagen abwechselnd Unterricht. Aus Bemerkungen von Samuel schließe ich, dass es Ihrer Schwester Rebecca gut geht. Was sonst noch?«
»Und was ist mit Ihrem Cousin Jacob?«
»Er ist wieder nach Rotterdam umgezogen, und ich sehe ihn kaum.«
»Und die wichtige Frage: Sind Sie zufrieden, Franco ?«
»Ja, aber es ist eine melancholische Art von Zufriedenheit. Dadurch, dass ich Sie kennenlernen durfte,
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