Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
war.«
»Aber, Dr. Pfister, es liegt doch auf der Hand, dass Sie niemals die Gelegenheit haben werden, ihn zu analysieren. Schon allein die Entfernung macht das unmöglich. Bestenfalls treffen Sie ihn in großen, unregelmäßigen Abständen zu einer Sitzung und werden niemals gründliche archäologische Arbeiten in seiner Vergangenheit durchführen können.«
»Richtig. Diese Idee muss ich fallen lassen. Es muss andere Gründe geben.«
»Ich erinnere mich, dass Sie einmal von Ihrem Eindruck einer ausradierten Vergangenheit sprachen. Es gibt nur noch Ihren guten Freund, den Bruder. Ich habe seinen Namen vergessen …«
»Eugen.«
»Ja. Nur Eugen Rosenberg ist übriggeblieben und zu einem viel geringeren Teil Eugens jüngerer Bruder Alfred, mit dem Sie nie eng befreundet waren. Ihre Eltern sind tot, es gibt keine Geschwister, Sie haben keine anderen Verbindungen zu Ihrem früheren Leben – weder Menschen noch Orte. Mir scheint, Sie wollen das Älterwerden oder die Vergänglichkeit leugnen, indem Sie nach etwas Unvergänglichem suchen. Damit beschäftigen Sie sich doch hoffentlich in Ihrer persönlichen Analyse?«
»Noch nicht. Aber Ihre Bemerkungen sind hilfreich. Ich kann die Zeit nicht dadurch anhalten, dass ich mich an Eugen oder Alfred klammere. Ja, Dr. Abraham, Sie stellen klar, dass meine Treffen mit Alfred meinen inneren Konflikten in keiner Weise dienlich sind.«
»Das ist so wichtig, Dr. Pfister, dass ich es wiederhole: Ihre Treffen mit Alfred Rosenberg sind Ihren inneren Konflikten in keiner Weise dienlich . Das richtige Forum dafür ist Ihre eigene Analyse. Richtig?«
Friedrich nickte resigniert.
»Deshalb frage ich Sie noch einmal: Warum wollen Sie sich mit ihm treffen?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich stimme Ihnen zu, dass er ein gefährlicher Mann ist, der Hass verbreitet. Und dennoch sehe ich in ihm immer noch den kleinen Nachbarjungen und nicht den Mann, der böse ist. Ich betrachte ihn als fehlgeleitet, nicht als dämonisch. Er glaubt tatsächlich an diesen rassistischen Unsinn, und seine Gedanken resultieren in vollkommen konsequenter Weise aus den Vorgaben Houston Stewart Chamberlains. Ich glaube nicht, dass er ein Psychopath, ein Sadist oder ein gewalttätiger Mensch ist. Er ist eigentlich eher schüchtern, fast feige und unsicher. Er kann zu anderen nur sehr schlecht Beziehungen aufbauen und ist vollkommen auf die Hoffnung festgelegt, die Zuneigung seines Führers Hitler zu gewinnen. Aber dennoch scheint er sich seiner Grenzen bewusst zu sein und ist erstaunlicherweise zu therapeutischer Arbeit bereit.«
»Dann sind Ihre Therapieziele also …«
»Vielleicht bin ich naiv, aber ist es nicht so, dass er weniger Unheil auf der Welt anrichten wird, wenn es mir gelänge, ihn zu einer moralischeren Person zu verändern? Das ist bestimmt besser, als gar nichts zu tun. Vielleicht kann ich ihm ja sogar helfen, die Macht und die Irrationalität seines Antisemitismus wahrzunehmen.«
»Nun, falls Sie den Antisemitismus erfolgreich analysieren könnten, würden Sie dafür den Nobelpreis bekommen, der Freud bislang versagt blieb. Haben Sie eine Vorstellung, wie Sie das angehen würden?«
»Noch nicht – noch ist es in weiter Ferne, und mit Sicherheit ist es mein Ziel und nicht das des Patienten.«
»Und sein Ziel? Was will er?«
»Sein ausdrückliches Ziel ist es, einen effektiveren Zugang zu Hitler und zu den anderen Parteimitgliedern zu bekommen. Ich müsste etwas Erhabeneres als das hineinschmuggeln.«
»Sind Sie ein guter Schmuggler?«
»Blutiger Anfänger, würde ich sagen, aber ich habe eine Idee. Ich hatte Ihnen gegenüber erwähnt, dass ich ihm geholfen habe, sich in Spinoza einzulesen. Nun, im vierten Teil der Ethik , in dem Abschnitt, in dem es darum geht, die menschliche Unfreiheit abzustreifen, gibt es eine Passage, die meine Aufmerksamkeit erweckte. Spinoza sagt, dass die Vernunft der Leidenschaft nicht Paroli bieten kann und wir deshalb die Vernunft zu einer Leidenschaft machen müssen.«
»Hmm, interessant. Und wie wollen Sie das anstellen?«
»Ich habe keine präzise Methode parat. Aber ich weiß, dass ich seine Neugier auf sich selbst wecken muss. Hat nicht jeder ein intensives Interesse an sich selbst? Möchte nicht jeder alles über sich selbst wissen? Bei mir jedenfalls ist es so. Ich werde mich bemühen, Alfreds Neugier auf sich selbst anzufachen.«
»Ein interessanter Weg, die Therapie zu umreißen, Dr. Pfister. Ein origineller Weg. Wollen wir hoffen, dass er
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