Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
mir, dass du an dir selbst etwas ändern möchtest, dass du weniger Sphinx sein, ungezwungener plaudern möchtest …«
»Das war damals. Jetzt habe ich nicht die Absicht, mich selbst zu schwächen, um die Kleingeister zu hofieren, damit sie mich mögen. Tatsächlich halte ich diesen Gedanken inzwischen für widerlich. Genau diese Idee ist der Mikrokosmos des bedeutenden Themas, dem wir uns als Nation stellen müssen: Die Schwachen sind den Starken nicht gleichwertig. Wenn die Starken ihren Willen und ihre Macht verringern, wenn sie ihre Bestimmung als Führer aufgeben oder ihre Blutlinie durch eine Mischehe verschmutzen, dann unterminieren sie die wahre Größe des Volkes.«
»Alfred, für dich besteht die Welt nur aus Schwachen und Starken. Es gibt aber doch bestimmt andere Möglichkeiten, die Welt …«
»Unsere gesamte Geschichte«, unterbrach Alfred, und seine Stimme gewann an Kraft, »ist eine Geschichte der Starken und der Schwachen. Ich will offen mit dir reden. Die Aufgabe starker Männer wie Hitler, wie ich und wie du besteht darin, das Gedeihen der überlegenen arischen Rasse zu fördern. Du schlägst vor, die Geschichte ›anders‹ zu sehen. Du beziehst dich zweifellos auf die Art und Weise, wie die Kirche versucht, uns von Blutsbanden zu befreien und den unabhängigen Menschen zu erschaffen, der nichts als eine Abstraktion ist und dem Polarität oder Stärke fehlt? Alle Vorstellungen von Gleichheit sind Hirngespinste und wider die Natur.«
Friedrich erlebte an diesem Tag einen anderen Alfred – Alfred Rosenberg, den NS-Ideologen, den Propagandisten, den Redner bei Massenkundgebungen der Nazis. Ihm gefiel nicht, was er sah, doch er hielt reflexartig an seiner Rolle fest. »Ich weiß noch, als wir uns zum allerersten Mal als Erwachsene unterhielten, sagtest du, dass du größtes Vergnügen an einem philosophischen Gespräch hättest. Du sagtest mir, dass du über Jahre hinweg keine Gelegenheit dazu hattest.«
»Das ist bestimmt richtig. Es ist immer noch richtig.«
»Darf ich dir dann ein paar philosophische Fragen zu deinen Bemerkungen stellen?«
»Mit Vergnügen.«
»Alles, was du heute Morgen gesagt hast, beruht auf einer grundsätzlichen Annahme: dass die arische Rasse überlegen ist und dass große und drastische Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Reinheit dieser Rasse zu verbessern. Richtig?«
»Sprich weiter.«
»Meine Frage ist schlicht die: Was sind deine Beweise? Ich zweifle nicht daran, dass jede andere Rasse, sollte sie danach gefragt werden, ihre eigene Überlegenheit proklamieren würde.«
»Beweise? Du brauchst dich nur bei den großen Deutschen umzusehen. Benutze deine Augen, deine Ohren. Hör dir Beethoven, Bach, Brahms, Wagner an. Lies Goethe, Schiller, Schopenhauer, Nietzsche. Sieh dir unsere Städte an, unsere Architektur, und schau dir die großen Zivilisationen an, die unsere arischen Vorfahren ins Leben riefen und die irgendwann untergingen, nachdem sie von schlechtem, semitischem Blut verschmutzt wurden.«
»Ich glaube, du zitierst Houston Stewart Chamberlain. Ich habe inzwischen ein wenig in seinen Arbeiten gelesen, und, offen gestanden, bin ich von seiner Beweisführung nicht beeindruckt. Sie stützt sich auf kaum mehr als auf die Behauptung, dass in Malereien ägyptischer, indischer oder römischer Höflinge blauäugige, blonde Arier zu sehen sind. Das ist kein Beweis. Die Historiker, die ich befragte, sagen, dass Chamberlain sich die Geschichten einfach zusammenphantasiert hat, um seine ursprünglichen Behauptungen zu unterstützen. Bitte gib mir substantiellere Beweise für deine Annahmen. Gib mir den Beweis, den ein Kant oder Hegel oder Schopenhauer respektieren würde.«
»Beweise, sagst du? Meine Beweise sind mein Gefühl für unser Blut. Wir echten Arier vertrauen unseren Leidenschaften, und wir wissen, wie wir sie nutzen können, um wieder unseren rechtmäßigen Platz als Führer einzunehmen.«
»Ich höre Leidenschaft, aber ich höre noch immer keinen Beweis. Auf meinem Gebiet forschen wir nach den Ursachen starker Leidenschaften. Ich möchte dir von einer Theorie aus der Psychiatrie erzählen, die für unsere Diskussion höchst relevant sein dürfte. Alfred Adler, ein Wiener Arzt, hat viel über die allbekannten Gefühle von Minderwertigkeit geschrieben, die schlicht darauf zurückzuführen sind, dass wir als Menschen aufgewachsen sind und eine längere Periode erlebten, während derer wir uns hilflos, schwach und abhängig fühlten. Es gibt
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