Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
viele, die dieses Gefühl von Minderwertigkeit nicht akzeptieren können und es damit kompensieren, dass sie einen Überlegenheitskomplex entwickeln, der nichts anderes als die Kehrseite derselben Medaille ist. Alfred, ich glaube, dass diese Dynamik bei dir mit im Spiel sein könnte. Wir haben darüber gesprochen, wie unglücklich du als Kind warst und dass du dich nirgends zu Hause fühltest, dass du unbeliebt warst und dich darum bemühtest, zum Teil auch deshalb Erfolg zu haben, um ›es ihnen zu zeigen‹ – weißt du noch?«
Keine Antwort von Alfred, der nur dasaß und ihn anstarrte. Friedrich fuhr fort: »Ich glaube, du machst den gleichen Fehler wie die Juden, die sich selbst zweitausend Jahre lang für ein überlegenes Volk, für Gottes auserwähltes Volk, gehalten haben. Du und ich, wir waren uns darin einig, dass Spinoza dieses Argument zerpflückt hat, und ich zweifle nicht daran, dass die Macht seiner Logik, wäre er heute noch am Leben, dein arisches Argument ebenfalls zerpflücken würde.«
»Ich habe dich davor gewarnt, dich auf dieses jüdische Gebiet zu wagen. Was weiß die Psychoanalyse schon von Rasse, Blut und Seele? Ich habe dich gewarnt, und jetzt muss ich befürchten, dass du auch schon korrumpiert bist.«
»Und ich sagte dir , dass dieses Wissen und diese Methode zu gut und zu mächtig sind, um sie allein den Juden zu überlassen. Ich und meine Kollegen haben die Prinzipien dieses Fachgebiets eingesetzt, um Legionen verwundeter Arier eine enorme Hilfe zukommen zu lassen. Und du bist auch verwundet, Alfred, aber trotz deiner eigenen Wünsche erlaubst du mir nicht, dir zu helfen.«
»Und ich dachte, ich unterhalte mich mit einem Übermenschen. Wie sehr habe ich mich getäuscht!« Alfred stand auf, zog ein Kuvert mit Reichsmark-Banknoten aus der Tasche, legte es mit größter Akkuratesse auf die Ecke von Friedrichs Schreibtisch und marschierte zur Tür.
»Ich sehe dich dann morgen zur selben Zeit«, rief Friedrich ihm nach.
»Nicht morgen«, rief Alfred vom Flur aus, »und niemals wieder! Ich werde dafür sorgen, dass diese jüdischen Gedanken Europa zusammen mit den Juden verlassen.«
29
RIJNSBURG UND AMSTERDAM, 1662
Während Bento nach Amsterdam trottete, lenkte er seine Gedanken bewusst von der Vergangenheit ab: Er löste sich von nostalgischen Bildern mehrerer Rosh Hashanahs , die er mit seiner Familie begangen hatte und die ihm die Aschkenaser Juden mit ihrer Taschlich- Zeremonie wieder in Erinnerung gerufen hatten. Er wandte sich dem zu, was vor ihm lag. In einer knappen Stunde würde er Simon wiedersehen, den lieben, großzügigen Simon, seinen glühendsten Unterstützer. Es war gut, dass Simon so nahe wohnte. So konnten sie einander gelegentlich besuchen. Aber es war auch gut, dass Simon nicht noch näher wohnte, zumal er bei mehreren Gelegenheiten zu erkennen gegeben hatte, die Freundschaft mit Bento vertiefen zu wollen. Ein Vorfall bei Simons letztem Besuch in Rijnsburg fiel ihm ein.
»Bento«, sagt Simon, »auch wenn wir enge Freunde sind, habe ich dennoch den Eindruck, als würden Sie sich mir entziehen. Tun Sie mir den Gefallen, mein Freund, und berichten Sie mir genau, wie Sie Ihre Tage verbringen. Den gestrigen, zum Beispiel.«
»Gestern war wie jeder andere Tag. Ich begann den Tag damit, Gedanken zu sammeln und aufzuschreiben, die sich während der Nacht in meinem Kopf angesammelt hatten, und die folgenden vier Stunden beschäftigte ich mich mit dem Schleifen meiner Linsen.«
»Was genau machen Sie? Erzählen Sie mir Schritt für Schritt, wie Sie vorgehen.«
»Was soll ich Ihnen erzählen? Ich werde es Ihnen zeigen. Aber es braucht Zeit.«
»Ich wünsche mir nichts mehr, als an Ihrem Leben teilzuhaben.«
»Begleiten Sie mich in das andere Zimmer.«
Im Labor deutet Bento auf eine große Glasplatte. »Damit beginne ich. Die Platte holte ich gestern in der Glasfabrik ab, die nur einen Kilometer von hier entfernt ist.« Er nimmt eine Bügelsäge in die Hand. »Sie ist scharf, aber nicht scharf genug. Ich reibe sie jetzt mit Öl und Diamantsand ab.« Bento schneidet ein rundes, drei Zentimeter großes Stück heraus. »Im nächsten Schritt schleife ich dieses Stück auf die richtige Wölbung und den richtigen Winkel. Zuerst fixiere ich es unverrückbar auf der Matrize – und zwar so.« Bento trägt mit größter Sorgfalt Schwarzpech auf und schiebt das Werkstück in Position. »Und nun schleife ich auf der Drehbank erst einmal mit Feldspat und Quarz vor.« Nach zehn
Weitere Kostenlose Bücher