Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
und bald wird er alle NS-Wahlen organisieren. Und es gibt noch einen anderen im inneren Zirkel: Rudolf Hess. Er ist schon eine ganze Weile dabei und hat beim Putsch eine Abteilung der SA befehligt. Aber er trat trotzdem viel später in Hitlers Leben als ich. Er saß in einer Nachbarzelle in Landsberg und besuchte Hitler täglich. Er ist ausgebildeter Stenograph, weil er ursprünglich in das Unternehmen seines Vaters eintreten wollte, und jetzt diktiert ihm Hitler sein Buch Mein Kampf . Ich gebe zu, dass ich Hess beneide. Ich wäre liebend gern ins Gefängnis gegangen, wenn ich Hitler nur täglich hätte sehen können. Sie haben den ersten Band im Gefängnis beendet, und ich glaube, dass Hess ziemlich viel redigiert hat – viel davon sehr schlecht. Also, weißt du, ich bin der führende Intellektuelle der Partei und bei weitem der beste Schreiber – da hätte man doch annehmen können, dass er mich bittet, es zu redigieren. Ich hätte es wirklich deutlich verbessern können. Mit Sicherheit hätte ich ihm mehrere Passagen herausgestrichen, von denen er jetzt öffentlich bedauert, sie geschrieben zu haben – bestimmt jedenfalls diese Schnapsidee mit der Syphilis. Aber er hat mich kein einziges Mal gefragt.«
»Warum hat er dich nicht gefragt?«
»Ich habe den einen oder anderen Verdacht, über den ich außer mit dir mit niemandem sprechen kann. Zum einen glaube ich, dass er wusste, dass ich kein unvoreingenommener Redakteur gewesen wäre. Allein schon wegen der ganzen Ideen, die er mir geklaut hat. Siehst du, bevor er ins Gefängnis ging, war ich nämlich der offizielle Parteiphilosoph. Immerhin schrieben ein paar der linken Blätter regelmäßig so etwas wie: ›Hitler ist Rosenbergs Sprachrohr‹ oder ›Hitler befiehlt, was Rosenberg will.‹ Das hat ihn unglaublich gewurmt, und nun will er in aller Deutlichkeit klarstellen, dass er der einzige Urheber der Parteiideologie ist und ich nichts damit zu tun habe. In Mein Kampf drückt er das explizit aus. Ich habe mir den folgenden Satz gemerkt: ›Innerhalb langer Perioden der Menschheit kann es einmal vorkommen, daß sich der Politiker mit dem Programmatiker vermählt.‹ Er möchte als diese seltene Art von Führer angesehen werden.«
Alfred lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss einen Moment lang die Augen.
»Du wirkst entspannter, Alfred.«
»Es ist hilfreich, mit dir zu sprechen.«
»Sollen wir dem auf den Grund gehen? Inwieweit bin ich hilfreich?«
»Du gibst mir eine neue Perspektive, das, was mir passiert ist, mit anderen Augen zu betrachten. Es ist eine Erleichterung, mit einem intelligenten Mitmenschen zu sprechen. Ich bin von einer derartigen Mittelmäßigkeit umgeben.«
»Es ist, als gäbe dir diese Umgebung hier, diese Art zu sprechen, eine Atempause von deiner Isolation. Richtig?«
Alfred nickte.
»Ja«, fuhr Friedrich fort, »und ich freue mich, dir das bieten zu können. Aber das ist nicht genug. Ich frage mich, ob es etwas gibt, womit ich dir etwas Substantielleres als Erleichterung bieten könnte. Etwas, das tiefer greift und länger anhält.«
»Da bin ich ganz dafür. Aber wie soll das gehen?«
»Lass es mich versuchen. Ich beginne mit einer Frage. Es gibt eine ganze Reihe negativer Gefühle, die von Hitler und vielen anderen auf dich zukommen. Meine Frage lautet: Welche Rolle spielst du dabei?«
»Das habe ich schon angesprochen. Ich spreche das ständig an. Ich werde wegen meiner überdurchschnittlichen Intelligenz abgelehnt. Ich habe einen komplexen Verstand, und die meisten Menschen können der Vielschichtigkeit meiner Gedanken nicht folgen. Es ist nicht meine Schuld, aber ich wirke auf die Leute einschüchternd. Weil sie meine Ideen nicht voll und ganz verstehen können, kommen sich viele dumm vor und schlagen dann auf mich ein, als sei es meine Schuld.«
»Nein, das ist nicht ganz das, worauf ich hinauswill. Ich versuche vielmehr, auf die Frage einzugehen: ›Was möchtest du an dir verändern?‹ Denn das ist es, was ich versuchen möchte – meinen Patienten zu helfen, sich zu ändern. Deine Antwort, dass dein Problem auf deinem überdurchschnittlichen Verstand gründet, führt uns in eine Sackgasse, weil du natürlich nichts von deinem überdurchschnittlichen Verstand opfern möchtest. Das möchte niemand.«
»Ich kann dir nicht mehr folgen, Friedrich.«
»Was ich meine, ist, dass eine Therapie aus Veränderung besteht, und ich möchte dir herausfinden helfen, was du an dir selbst verändern möchtest. Wenn du
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