Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
Ausbildung genossen haben. Ich habe jedes Wort des Neuen Testaments gelesen.«
» Das hatte ich tatsächlich vergessen. Das heißt, dass Sie bereits Ihre zweite Ausbildung begonnen haben. Das ist gut. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament liegt viel Weisheit. Besonders bei Paulus. Nur einen Vers vorher drückt er genau meine Ansicht zu Geschichten aus: ›Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.‹«
Franco hielt inne und wiederholte für sich selbst: »›Stückwerk?‹, ›Das Vollkommene‹?«
»Das ›Vollkommene‹«, sagte Bento, »ist die moralische Wahrheit. Das ›Stückwerk‹ ist die Verpackung – in diesem Fall die Geschichte, die nicht mehr nötig ist, sobald die Wahrheit geliefert wurde.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich Paulus als Vorbild für das Leben annehmen kann. Sein Leben, so wie es gelehrt wird, scheint aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. So ernst, so fanatisch, so freudlos, so abhold allen weltlichen Freuden. Bento, Sie gehen mit sich selbst so unbarmherzig um. Warum sich des Vergnügens an einer guten Geschichte berauben, eines so harmlosen, so allgemeinen Vergnügens? In welcher Kultur gibt es keine Geschichten?«
»Ich erinnere mich an einen jungen Mann, der über Geschichten von Wundern und Prophezeiungen schimpfte. Ich erinnere mich an einen aufgebrachten, sprunghaften und rebellischen jungen Mann, der sich heftig gegen Jacobs Strenggläubigkeit auflehnte. Ich erinnere mich an seine Reaktionen auf die Gottesdienste in der Synagoge. Obwohl er kein Hebräisch gelernt hatte, folgte er der portugiesischen Übersetzung der Thora und geriet über deren Geschichten außer sich; er sprach über den Wahnsinn in den jüdischen und katholischen Gottesdiensten. Ich erinnere mich, dass er mich fragte: ›Warum ist die Zeit der Wunder vorbei? Warum hat Gott kein Wunder vollbracht und meinen Vater gerettet?‹ Und derselbe junge Mann litt unsäglich darunter, dass sein Vater sein Leben für eine Thora geopfert hatte, in der es vor Aberglauben über Wunder und Prophezeiungen nur so wimmelt.«
»Ja, das ist alles richtig. Ich erinnere mich.«
»Und wo sind diese Gefühle nun geblieben, Franco? Jetzt sprechen Sie von nichts anderem als von der Freude, die Sie beim Studium der Thora und des Talmud empfinden. Und dennoch sagen Sie, dass Sie meine Kritik des Aberglaubens immer noch voll und ganz teilen. Wie kann das sein?«
»Bento, es ist dieselbe Antwort – es ist der Vorgang des Studiums, der mir Freude bereitet. Ich nehme den Inhalt nicht sehr ernst. Ich mag die Geschichten, aber ich nehme sie nicht als historische Wahrheiten. Ich achte die Moral, die Botschaften in der Heiligen Schrift über Liebe und Barmherzigkeit, Freundlichkeit und ethisches Verhalten. Und den Rest beachte ich nicht. Außerdem gibt es solche und solche Geschichten. Einige Geschichten über Wunder sind, wie Sie sagen, der Feind der Vernunft. Aber andere Geschichten wecken die Aufmerksamkeit des Schülers, und das halte ich für nützlich, sowohl bei meinen Studien als auch für meinen Unterricht, den ich demnächst halten werde. Eines weiß ich ganz bestimmt – Schüler werden immer an Geschichten interessiert sein, wohingegen es niemals eine große Anzahl von Schülern geben wird, die begierig darauf sind, Euklid und die Geometrie zu studieren. Ach, übrigens, da ich gerade vom Unterrichten spreche, fällt mir ein, was ich Ihnen noch unbedingt sagen wollte! Ich beginne gerade, die Grundlagen der hebräischen Sprache zu unterrichten, und raten Sie, wer unter meinen Schülern ist? Bereiten Sie sich auf einen gehörigen Schrecken vor – Ihr Möchtegern-Attentäter!«
»Ach was! Mein Attentäter! Das ist wirklich ein Schreck! Sie sind der Lehrer meines Attentäters? Was können Sie mir dazu erzählen?«
»Er heißt Isaac Ramirez, und Ihre Vermutung über seine Lebensumstände waren vollkommen richtig. Seine Familie wurde von der Inquisition terrorisiert, seine Eltern getötet, und er war vor Trauer außer sich. Genau diese Tatsache, dass seine Geschichte der meinen so ähnlich ist, hat mich veranlasst, ihn auf eigenen Wunsch zu unterrichten, und bis jetzt kommen wir gut voran. Sie gaben mir einige wichtige Ratschläge über mein Verhalten ihm gegenüber, die ich nie vergessen habe. Erinnern Sie sich daran?«
»Ich erinnere mich an meine Bitte an Sie, der Polizei nicht zu sagen, wo er sich aufhält.«
»Ja, aber Sie sagten noch etwas anderes. Sie sagten: ›Wählen Sie einen
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